Treibgut
»Einen Moment bitte!«
Wenig später kam sie mit einem winzigen Speicherchip zurück. »Hier müsste alles drauf sein.«
Nachdem Henning den Chip in seiner Brieftasche verstaut hatte, ermunterte er sie, ihm etwas über ihre Familie zu erzählen. »Am besten fangen Sie damit an, wie Sie Ihren Mann, Leas Vater, kennengelernt haben.«
Seine Worte trieben Elena die Röte ins Gesicht. »Da muss ich wohl was richtigstellen«, meinte sie verlegen. »Danko war zwar mein Mann, aber nicht Leas leiblicher Vater.«
Auf Hennings Stirn bildete sich eine steile Falte. »Und weshalb erfahre ich das erst jetzt?«
»Weil, nun ja, ich dachte …«
»Das Denken sollten Sie besser mir überlassen.« Als er weitersprach, hatte seine Stimme eine durchdringende Schärfe angenommen: »Schlimm genug, dass ich erst durch Zufall vom Tod Ihres Mannes erfahren musste. Wenn ich Ihnen helfen soll, darf so etwas nicht mehr passieren.«
»Sie haben ja recht. Tut mir leid«, sagte Elena, ehe sie die Sprache auf Rufus Kirchner, Leas leiblichen Vater, brachte.
Rufus hatte seine Mutter im Alter von 14 Jahren verloren. Sie war an einer chronischen Herzschwäche gestorben. Seinen Vater hat er nie kennengelernt. Nach dem Tod seiner Mutter musste er umziehen und die Schule wechseln, wodurch er Elena kennen und lieben lernte. »Obwohl wir danach in verschiedenen Städten studiert haben, haben wir uns nie aus den Augen verloren. Als er mit seinem Studium fertig war – er hat übrigens Architektur studiert –, sind wir zusammengezogen. Rufus war meine große Liebe«, hörte Henning sie mit einer Stimme sagen, in der eine tief verwurzelte Traurigkeit mitschwang.
»Er hat immer von einem eigenen Architekturbüro geträumt. Meine Eltern haben das notwendige Geld vorgeschossen. Ich bin schwanger geworden, als er mit dem Innenausbau begonnen hat.«
Bei der Erinnerung daran füllten sich ihre Augen mit Tränen. »Ich weiß noch genau, wie glücklich Rufus war, als ich ihm davon erzählte«, sagte sie. Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Er ist noch am selben Tag Opfer eines Verkehrsunfalls geworden. Im Polizeibericht stand, er sei wegen überhöhter Geschwindigkeit von der Straße abgekommen und in die Elbe bei Dresden gerast. Die Ermittlungen ergaben, dass die Straße vereist war und die Bremsen blockierten. Den Beamten zufolge war diese Kurve schon immer ein Unfallschwerpunkt. Soviel ich weiß, ist dort jetzt eine Leitplanke angebracht. Anscheinend hat er es noch geschafft, die Autotür zu öffnen. Vermutlich hat ihn dann die Strömung mitgerissen …«
Von ihren Gefühlen überwältigt, begrub sie ihr Gesicht in den Händen und weinte hemmungslos. Während ihr Körper von Krämpfen geschüttelt wurde, wartete Henning einfach ab. Er war erschüttert.
»Irgendwie«, nahm Elena nach einer Weile den Faden wieder auf, »kam damals alles zusammen. Ich hatte Rufus’ Verlust noch längst nicht verwunden, als meine Mutter an Krebs starb und mein Vater einen tödlichen Schlaganfall erlitt.« Beim Wort ›Vater‹ versagte ihr fast die Stimme. Sie räusperte sich. »Alles, was mir blieb, war ein zwar bezugsfertiges, dafür aber mit jeder Menge Schulden belastetes Haus. Es war nur eine Frage der Zeit, bis mir die Höhe der monatlichen Ratenzahlungen das Genick brechen würde. Ich …, nun, ich weiß nicht, was aus mir und dem Baby geworden wäre, wenn Danko damals nicht in mein Leben getreten wäre«, fügte sie flüsternd hinzu.
»Woher, ich meine, wie …?«
»Sie meinen, wie wir uns kennengelernt haben?« Ihr Blick glitt in weite Ferne. »Danko und mein Vater sind Kollegen gewesen. Sie haben in der Stadtwaldklinik gearbeitet. Bis zu dem Moment, als er mir zur Beerdigung sein Beileid aussprach, kannte ich ihn allerdings nur vom Sehen. Umso größer war mein Erstaunen, als er mich ein paar Tage später anrief und um eine Unterredung bat. Wie sich zeigen sollte, beruhte sein Interesse auf der Tatsache, dass sich meine finanziellen Schwierigkeiten herumgesprochen hatten. Die kursierenden Spekulationen hinsichtlich der Zwangsversteigerung meines Hauses veranlassten ihn, sich mit mir in Verbindung zu setzen«, teilte Elena mit. »Wie Danko mir im Laufe unseres Gesprächs erzählte, trug er sich seit Längerem mit dem Gedanken, sich als Frauenarzt mit einer eigenen Praxis selbstständig zu machen. Als er mich fragte, ob ich mir vorstellen könnte, einen Teil der Räume im Erdgeschoss an ihn zu vermieten, sah ich keinen Grund, seinen Vorschlag abzulehnen.
Weitere Kostenlose Bücher