Treibgut
gern seine Tochter sein könnte. Eine Tochter, die er nie hatte und wohl gerade deshalb so schmerzlich vermisste.
Henning versuchte, sich ihr Bild vor Augen zu rufen. Er konnte es kaum erwarten, die Koffer zu packen.
Gleich nach dem Frühstück am nächsten Morgen wollte er die Bilder auf dem Speicherchip sichten. Er rechnete nicht wirklich damit, etwas Bedeutsames zu entdecken. Umso größer war sein Erstaunen, als er nach etwa der Hälfte der Aufnahmen auf eine Reihe von Fotos stieß, die von den anderen abwichen. Sie wirkten unscharf und verschwommen. Als wären sie aus einer plötzlichen Bewegung heraus aufgenommen worden. Sogar für einen Laien wie Henning war der Kontrast zu den ansonsten gestochen scharfen Fotos unübersehbar. Gleichzeitig staunte er über Elenas Begabung. Darüber, wie sie es verstanden hatte, die Stimmung dieses stürmischen Wintertags einzufangen. Er hatte nicht viel Ahnung von solchen Dingen, doch er erkannte, dass es sich um auserlesenes Material handelte. Schade um so viel Talent, dachte er bekümmert, um sich gleich darauf wieder den unscharfen Schnappschüssen zuzuwenden. Die unter dem eingeblendeten Datum stehende Uhrzeit verriet ihm, dass die Bilder innerhalb weniger Sekunden geschossen worden waren. Die meisten zeigten Ausschnitte eines von einem aluminiumgrauen Himmel überspannten Waldstücks. Auf zwei der Aufnahmen war bei genauer Betrachtung ein dunkler Schatten zu erkennen. Als er den betreffenden Abschnitt vergrößerte, zeigte sich, dass sein Umriss dem eines davonlaufenden Menschen ähnelte. Allerdings machten die ungünstigen Lichtverhältnisse es unmöglich, mehr als eine Silhouette zu erkennen. Henning unterdrückte einen unschönen Fluch. Was, wenn Elena gar nicht allein gewesen war?
Er griff zum Telefon und berichtete Peer von seiner Entdeckung.
»Bist du dir eigentlich darüber im Klaren, was du da andeutest?«, fragte Peer.
»Ein ziemlicher Hammer, was? Ich hatte es die ganze Zeit im Urin!«
Peers Schweigen zeigte Henning, wie unerwartet diese Wendung für ihn sein musste.
Mit einer gewissen Genugtuung hörte Henning ihn sagen, dass er die Ermittlungsakte beim Staatsanwalt anfordern werde.
Hennings darüber empfundene Befriedigung währte jedoch nur kurz. Schließlich wusste er nur zu gut, wie langsam die Mühlen der Bürokratie in einem solchen Fall zu mahlen begannen. Bevor sein Freund im Besitz der erforderlichen Unterlagen sein würde, konnten Wochen vergehen. Zeit, in der sie zum Nichtstun verurteilt wären. Es sei denn, man half der Sache auf eigene Faust nach. Bei dem Gedanken daran, verspürte er ein angenehmes Kribbeln in der Magengegend.
Wie zu erwarten stand Peer seinen Plänen alles andere als begeistert gegenüber. »Hast du schon vergessen, in welche Schwierigkeiten dich dein letzter Alleingang gebracht hat?«, rief er ihm sein eigenmächtiges Handeln im Fall Austen ins Gedächtnis zurück.
Henning unterdrückte ein Stöhnen. »Ich dachte, dir sei klar, dass dieser Fall ganz anders gelagert ist. Wir haben es hier weder mit einem Serientäter noch mit einem Psychopaten zu tun. Es besteht absolut kein Grund, sich Sorgen zu machen. Alles, was ich von dir will, ist, dich um die Auswertung der Bilder zu kümmern.«
»Na gut«, lenkte Peer schuldbewusst ein, »dann bring halt den Chip vorbei. Ich werd sehn, was ich für dich tun kann.«
Bevor Henning ihn von seinen Reiseplänen unterrichtete, nahm er ihm das Versprechen ab, Elena gegenüber vorerst nichts zu erwähnen. »Ich fürchte, das könnte sie sonst gleich wieder aus der Bahn werfen.«
9
Einen Tag vor Hennings Abreise meldete sich der Winter zurück.
Der über Nacht gefallene Schnee hatte die Straßen in spiegelglatte Fahrbahnen verwandelt und zu zahlreichen Unfällen geführt. Obwohl in den Nachrichten vor weiteren Schneefällen gewarnt wurde, beschloss Henning, sich wie geplant auf den Weg zu machen.
Nachdem er sein Gepäck im Kofferraum verstaut und Rex bei Wilhelm, Peers Vater, abgeliefert hatte, brach er kurz vor acht Uhr auf. Während er sich durch die von Schnee verwehten Straßen kämpfte, verdichteten sich die grau und schwer über der Insel lastenden Wolken. Kein Wunder, dass es nicht hell werden wollte. Beim Überqueren des Rügendamms begann es so stark zu schneien, dass Stralsunds Silhouette, geprägt vom Hafen, den hohen Speicherfassaden und den drei gotischen Kirchen, hinter einem Vorhang aus dicken weißen Flocken zu versinken drohte. Henning warf einen
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