Treibhaus der Träume
und holte einen Block und einen Bleistift heran. Mit schnellen Strichen zeichnete er die Knochenanatomie eines Unterschenkels. Dann nahm er einen Rotstift und zeichnete die Säbelbeine Tockers darüber. Wortlos reichte er dem Sänger den Block. Tocker nickte schwer.
»Ich sehe, es ist eine viehische Operation. Aber es ist die einzige Möglichkeit, mich vor dem Verrücktwerden zu retten.«
Lorentzen nahm den Block wieder an sich und zeichnete weiter. Dieses Mal mit Grünstift.
»Ich habe diese Operation ein einziges Mal ausgeführt. In New York. Die Knochen der Säbelbeine wurden zersägt und dann gerichtet. Die Operation mißlang.«
»Wieso?«
»Das eine Bein wurde gerade, das andere heilte nicht zusammen und wurde wieder krumm. Es sah noch schlimmer aus. Außerdem hinkte der Patient jetzt. In Deutschland werden solche Operationen nur in Spezialkliniken gemacht, und dann auch nur fast als ein Versuch, dessen Ausgang keiner weiß.«
»Dann machen Sie den Versuch, Doktor.«
»Und wenn Sie hinken? Wenn er mißlingt?«
»Dann singe ich nur noch Platten und im Funk.« Arnulf Tocker wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß vom schönen Gesicht. »Schlimmer als jetzt, wo ich jeden Abend vor dem Auftritt zittere und bete, man möge nicht lachen, kann es nicht werden. Sie operieren mich also, Doktor?«
Lorentzen warf den Block auf seinen Schreibtisch zurück. »Ja«, sagte er entschlossen. »Darf ich diese Operation später in der ›Chirurgischen Praxis‹ veröffentlichen?«
»Wenn sie gelingt, können Sie die Welt damit überschwemmen!« Arnulf Tocker breitete die Arme aus und holte tief Luft. »Winterstürme wichen dem Wonnemond …« donnerte es aus seiner Brust. Aus dem Sekretariat und aus dem Behandlungszimmer liefen Schwestern und Assistenten herbei.
»Zimmer 25«, lachte Lorentzen. »Gleich daneben ist ein Aufenthaltsraum mit einem Klavier.«
Glücklich, ganz siegreicher Held, verließ Kammersänger Tocker die Szene und folgte brav Schwester Hildegard auf sein neues Zimmer, das er mindestens vier Monate nicht wieder verlassen würde.
An diesem Nachmittag fielen auch die Würfel für Dr. Lorentzen. Die Klinik geht vor, das war jetzt sein fester Wille. Die Kranken brauchten ihn. Es durfte kein Privatleben geben, das dies alles zerstörte.
Am Abend kam er nicht zum gemeinsamen Essen mit Marianne hinüber. Er rief nicht an, er entschuldigte sich nicht. Im dunklen Zimmer seines Bungalows saß er am Fenster und sah in die Nacht.
Marianne oder die Klinik.
Niemand konnte ihm bei dieser Entscheidung helfen.
Während der Reporter Rappel sich in Patzenhausen niederließ, sich umsah und mit den Bauern und Geschäftsleuten unterhielt und so ganz nebenbei erfuhr, daß in der Nähe eine Schönheitsfarm und eine kosmetische Klinik lagen … »Da kumma se mit aner Knollennas' 'nein und wie an Filmschauspieler wieder 'naus …« – in etwa dieser Zeit entdeckte Frau Haut, der herbe, unnahbare Typ, etwas, das den Damen-Club aufscheuchte wie Hühner vor einem Fuchs: Man konnte Männer in die Schönheitsfarm schmuggeln.
Es gab da ein Gartentor, das nur mit einem einfachen Riegel von innen verschlossen wurde. Von diesem Tor aus führte ein durch hohe Büsche dunkler Weg direkt zum Fenster von Zimmer 4, einem Parterre-Appartement, das von Frau Direktor Hennes bewohnt wurde. Frau Hennes war neunundvierzig Jahre alt, sehr vornehm, sehr zurückhaltend, sehr pflichtbewußt in der Einhaltung ihres Tagesplanes, sehr mütterlich, wenn ihr Mann aus Duisburg anrief. Sie führte ein großes Haus bei Wedau, hatte sechs Mann Personal, glänzte auf den Bayreuther Festspielen mit Chinchillajacke und Diadem im rotbraun getönten Haar und beschäftigte voll und ganz einen eigenen Arzt. Sie hatte Frau Nitze zunächst abblitzen lassen, als im Damen-Club die Rede auf intime Erlebnisse kam.
»Sie heuchelt«, sagte Frau Nitze zu den anderen, sobald Frau Hennes gegangen war. »Und wie sie heuchelt! Haben Sie nicht ihren Chauffeur gesehen, der sie herbrachte? Ich sage Ihnen …«
Als dann eine Abordnung von drei Frauen in dem bewußten Appartement erschien, aus dem Fenster blickte und feststellte, daß tatsächlich dieser Weg geradezu zum Paradies führte, schimpfte Frau Hennes. »Das ist ja allerhand! Sie verlangen tatsächlich, daß nachts die Männer in mein Zimmer einsteigen? Das ist unerhört. Ich soll zur Pforte der Sünde werden?«
Zwei Nächte später klopfte es gegen Mitternacht an das Fenster von Frau Hennes. Sie sprang aus
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