Treibhaus der Träume
den Abgrund.
Am Morgen ließ sich Horst Rappel zur Untersuchung in der ›Almfried-Klinik‹ anmelden. Im ›Chefzimmer‹ traf er zu seiner größten Enttäuschung nicht Dr. Lorentzen, sondern Dr. Thorlacht an. Dieser begrüßte den neuen Patienten höflich und blickte auf die Karteikarte, die im Vorzimmer ausgefüllt worden war. Ein roter Strich zog sich über die linke obere Ecke.
»Sie sind nicht angemeldet, Herr Rappel?« fragte Dr. Thorlacht und musterte ihn schnell. »Ich darf Sie darauf aufmerksam machen, daß wir für vier Wochen im voraus belegt sind.«
»Das wußte ich nicht.« Horst Rappel spielte den sehr verlegenen, kleinen Mann, dem es unangenehm ist, überhaupt einen Arzt zu stören mit der Bitte, ihm zu helfen. Er spielte nervös mit dem Aschenbecher und entschuldigte sich sofort mit einer Verbeugung im Sitzen, als dieser auf die Tischplatte fiel. »Ich dachte, so viele Menschen gibt es nicht, die sich … von wegen Schönheit und so … Bei mir ist das etwas anderes, wissen Sie?«
Dr. Thorlacht wußte gar nichts, aber er nickte höflich. Dieser Mann hat Angst und ist seelisch gehemmt, dachte er naiv. Das hat man oft, wenn ein körperlicher Fehler auf die Psyche drückt. Er sah kurz auf die Karte. Narbenkorrektur, stand dort. Da das Gesicht glatt war, konnte es sich also nur um eine Körpernarbe handeln.
»Wenn Sie vier Wochen Wartezeit auf sich nehmen wollen …«
»Schlecht, sehr schlecht, Herr Doktor.« Horst Rappel schlang die Finger ineinander. Er wußte gar nicht bis zu dieser Stunde, wie schauspielerisch begabt er war. »Ich wollte in Urlaub fahren. In den Süden. Weihnachts- und Silvesterfahrt nach Madeira. Mit der ›Arcadia‹. O Gott, davon habe ich schon als Kind geträumt. Die Palmen, die blühenden Berge, das weite, rauschende Meer, die ewige Sonne, die fröhlichen Menschen. Wenn ich groß bin und Geld habe, fahre ich auch nach Madeira, habe ich mir gesagt. Das ist mein Ziel. Jeder Mensch muß doch ein Lebensziel haben, nicht wahr, Herr Doktor?«
»Natürlich«, sagte Dr. Thorlacht und nickte. Ein spaßiger Vogel, dachte er. Horst Rappel wurde ihm sympathisch. Es war eine gefährliche Sympathie.
»Und so habe ich gespart und gespart. Als kaufmännischer Angestellter hat man ja nicht viel. Wohnen will man auch anständig, sich kleiden und ab und zu mit einem Mädel ausgehen, das kostet Groschen. Aber nun habe ich es zusammen … Ist das nicht schön?«
»Sehr schön.« Dr. Thorlacht lächelte. Er war gespannt, mit welch einem Leiden dieser Horst Rappel herausrückte. Sicherlich war es ebenso minimal, wie seine Madeirasucht groß war. »Wo können wir Ihnen nun helfen?«
»Darf ich mich freimachen?« Rappel sprang wie ein Gummiball auf. Er war von sich selbst begeistert. Das ist eine Rolle, dachte er. Dabei ist es gar nicht leicht, den harmlosen Doofen zu spielen.
»Bitte«, sagte Dr. Thorlacht.
Rappel zog seinen Rock aus, entledigte sich seines Hemdes, würgte das Unterhemd über seinen Kopf. Dann wandte er den Rücken Dr. Thorlacht zu.
Zwischen den Schulterblättern war eine breite, ziemlich wulstige Narbe. Links und rechts der Narbe sah man deutlich die Fadeneinstechung. Obwohl diese vernähte Wunde schon ziemlich alt sein mußte, war die Rückbildung sehr mangelhaft.
»Häßlich, nicht wahr, Herr Doktor?« fragte Rappel mit herrlich bedrückter Stimme. Dr. Thorlacht tastete die Narbe mit den Fingerspitzen ab und drückte hier und da auf die Wülste.
»Wann wurde die Wunde genäht?«
»Das war vor sechs Jahren. Ein Unfall, Herr Doktor. Ein Mopedfahrer fuhr mich von hinten an, warf mich um und riß mir den Rücken auf. Ich wurde sofort genäht, war ja nur eine tiefe Fleischwunde. Hat nicht geeitert und nicht genäßt. Alles normal … und dann so eine Narbe!« Rappel stand mit wehmütigem Gesicht vor Dr. Thorlacht, ein Bild erschütternder Hilflosigkeit. »Bisher war das nicht wichtig. Im Urlaub am Meer halte ich mich abseits, so gut es geht. Ich bin ein scheuer Mensch, Herr Doktor. Und die Mädchen, die ich … naja, Sie wissen …« Er wurde sogar rot. »Da kam es nicht so drauf an, Herr Doktor. Doch jetzt, auf dem Schiff, in Madeira, unter all den Menschen, an Deck im Swimmingpool, am Strand … ich kann mich doch nicht in eine Ecke setzen. Ich will doch von meinem Lebensziel Madeira etwas haben!«
Dr. Thorlacht blickte noch einmal auf die Rückennarbe. Ganz klar, dachte er. Dieser arme Horst Rappel neigt zur Keloidbildung. Da ist eigentlich kaum etwas zu machen. Was
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