Treibhaus der Träume
alles! Ein paar Zeilen.«
»Ein Tritt macht keine großen Umstände. Nur zu!«
Dr. Bantz nahm schnell einen Schluck Kognak, ehe er das Testament zu lesen begann.
»Mein Letzter Wille.
Ich habe einmal geglaubt, diese Zeilen so schreiben zu können: Alles erbt meine Tochter Helene. Aber Helene hat geheiratet, gegen meinen Willen, und auch noch einen Arzt. Ich habe mich immer geweigert, Schwiegervater zu werden oder gar Großvater. Aber das Schicksal wollte es anders. Ich muß mich damit abfinden, nach innen … nach außen muß ich meinen Schwiegersohn hassen, denn es gehört zu meinem Gesicht.«
Dr. Bantz unterbrach. Dr. Lorentzen zerbröselte die Zigarre nervös zwischen seinen Fingern.
»Ein völlig neues Heberach-Gefühl«, sagte er leise. »Sollten wir ihn alle verkannt haben?«
Dr. Bantz las weiter:
»Mein Schwiegersohn Dr. Lutz Lorentzen ist mein bester Schüler gewesen. Er wurde mein bester Oberarzt. Er ist als Chirurg ein Genie … ich habe das nie gesagt, weil es für einen Heberach unmöglich war. Jetzt, nach meinem Tode, kann ich es: Lorentzen ist ein Genie. Er konnte mehr als ich …«
»Als Heberach das schrieb, war er schon krank«, warf Lorentzen ein. Sein Gesicht glühte. Bantz winkte ab.
»Hören Sie weiter, Lorentzen: Mein Letzter Wille also: Alles, was ich habe, das sind Häuser, Grundstücke, Aktien, Bankkonten, Buchverträge, Inventar und alle auf meinen Namen lautende Rechte vererbe ich meiner Tochter, Frau Helene Lorentzen geborene Heberach. Sollte meine Tochter vor Dr. Lorentzen sterben, so tritt Dr. Lorentzen voll in dieses Erbe als Alleinerbe ein unter einer Bedingung: In meinem Schreibtisch befindet sich das unvollendete Manuskript eines auf drei Bände angelegten Werkes: ›Lehrbuch der modernen Chirurgie‹. Es fehlen die Kapitel: Unfall-Chirurgie, Transplantationstechnik, Wiederherstellungschirurgie, Schönheits-Chirurgie. Ich habe diese Kapitel nicht geschrieben, weil ich weiß, daß Dr. Lorentzen es besser kann. Ich verpflichte nun Dr. Lorentzen, mein Werk zu Ende zu schreiben und unter meinem Namen herauszugeben und nie bekanntzugeben, daß diese Kapitel nicht von mir, sondern von ihm sind. Tut er das, soll er mein bzw. Helenes Alleinerbe sein, als Dank, meinen Namen der Nachwelt gerettet zu haben. Heberach.«
Dr. Bantz ließ das Blatt sinken. Er sah, wie Dr. Lorentzen beide Hände über die Augen gedeckt hatte.
»War das ein Tritt in den Hintern, Lorentzen?« fragte er leise.
Lorentzen schüttelte den Kopf. »Mein Gott, wie habe ich den Alten verkannt.« Er ließ die Hände sinken, seine Augen waren gerötet. »Und doch ist es typisch Heberach. Er ist der Größte, über das Grab hinaus … auch wenn ich als Geisterschreiber hinter ihm stehe.«
Dr. Bantz schob das Testament wieder in den großen Umschlag.
»Sie werden den Letzten Willen des Toten erfüllen?«
»Ja. Aber ohne Terminangabe. Ich habe eine große Klinik, die mich festhält.«
»Das Vermögen Heberachs an Häusern, Grundstücken, Aktien, Gemälden, Teppichen und Kunstgegenständen wird auf etwa drei Millionen Mark geschätzt. Auf den Bankkonten liegen zur Zeit fünfundvierzigtausend Mark. Allein seine Meißener Porzellansammlung ist dreihunderttausend Mark wert. Das gehört alles Ihnen, wenn Sie mir die fertig gedruckten drei Bände ›Lehrbuch der modernen Chirurgie‹ auf den Tisch legen.«
Dr. Lorentzen nickte. Wie betäubt flog er zurück nach München.
Und nun war Heiligabend.
Im Gemeinschaftsraum der Klinik brannte ein großer Tannenbaum voller Lichter. So wild, wie er aus dem Bergwald kam, so stand er im Raum. In seinen Zweigen sah man noch die Gipfelstürme, roch man den Schnee.
Schwester Emilie spielte auf dem Harmonium ›Stille Nacht, heilige Nacht‹. Daß sie auch das konnte, erregte allgemein Bewunderung. Bisher hatte man geglaubt, ihre Welt seien nur chirurgische Instrumente und Mulltupfer.
Im Hintergrund flog die Tür auf, als die zweite Strophe begann. Der ›Graf‹, dessen Hautrolle Lorentzen noch für Weihnachten aufgetrennt und als Deckung in den Defekt eingenäht hatte, biß sich auf die Zähne. Auch Dr. Thorlacht schnupfte ein paarmal auf, und der alte Patz sah an die Decke und scharrte mit den Füßen, während ihm die Augen naß wurden.
Auf zwei Stöcken kam Evelyn Heinzel herein. Sie ging langsam, unsicher … aber sie ging allein, gerade und nicht hinkend, sie setzte Fuß vor Fuß, und beide Beine waren gleich lang, die Kniescheiben in einer Höhe, die schmalen Fesseln in
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