Tribunal
lassen? Die Mimik während der Verlesung der Anklageschrift war für den Angeklagten entscheidend. Er bekam ein Gespür dafür, mit was für einem Typus von Richter er es zu tun hatte.
»Frau Staatsanwältin, bitte!«, wiederholte Frodeleit.
Sie räusperte sich, stand wenigstens auf. Wie oft hatte Frodeleit ihr davon erzählt, wie Strafrichtersitzungen abliefen. Anfangs hatte er sie sogar mitgenommen. Sie saß hinten im Saal wie eine unbeteiligte Zuschauerin, während er sich vorn zelebrierte. Seit drei Jahren, also seiner Zeit am Oberlandesgericht, durfte sie nicht mehr mitkommen. Frodeleit, nun Mitglied eines Senats mit drei Berufsrichtern, war es peinlich, wenn Verena hinten saß.
»Ich klage Hubert Löffke an«, begann sie und endete kläglich.
Löffke begann ein bellendes Lachen, doch Stephan stieß ihn in die Seite und mahnte ihn, ruhig zu bleiben.
»Parteiverrat«, gab Frodeleit vor und fügte hinzu: »Nicht du klagst an, sondern der Staat klagt an. Wähle die Passivform!«
Verena sah irritiert nach vorn.
»Hubert Löffke wird angeklagt«, half er.
»Hubert Löffke wird angeklagt«, wiederholte sie, »als Anwalt seine Partei verraten zu haben.«
Sie stockte und blickte erneut Hilfe suchend zu ihrem Mann.
Frodeleit kannte diesen Blick aus seiner Amtsrichterzeit, als Stationsreferendare die Staatsanwaltschaft vertraten und stümperhaft die Anklageschrift verlasen, sich dabei mehrfach versprachen und durch ihr ungelenkes Auftreten der Sitzung die Ernsthaftigkeit zu nehmen drohten, sich schließlich durch ein Plädoyer haspelten, das sie häufig mit ebenjenem Blick auf den Richter beendeten.
Frodeleit nickte, Verena setzte sich wieder. Zur Anklageschrift hätte gehört, Löffke mit dem Sachverhalt zu konfrontieren, der Grundlage der Anklage war. Aber gerade dieser war nicht bekannt.
»Es steht Ihnen frei, sich dazu zu äußern«, sagte er zu Löffke.
»Du spinnst«, kläffte Löffke.
»Der Angeklagte wird sich zum Vorwurf nicht äußern«, antwortete Stephan als Verteidiger.
»Wenn wir keine Beweismittel gegen Löffke haben, werde ich ihn freisprechen müssen, Herr Bromscheidt.«
»Das Gericht braucht nicht zu ermitteln, der Vorfall ist gerichtsbekannt«, antwortete der Lautsprecher.
»Ich weiß von keinem Fall, dass Herr Löffke seine Partei verraten hat«, erwiderte Frodeleit.
»Dann soll das Gericht nachdenken«, forderte Bromscheidt barsch. »Sie sind doch sehr akribisch, Herr Frodeleit. Sie sind der große zukünftige Senatsvorsitzende.«
»Hubert betrügt häufiger seine Mandanten«, warf Verena ein. »Er brüstet sich damit, sie auszunehmen.«
»Verena! Was erzählst du denn da?«, heulte Löffke.
»Es ist doch so«, gab sie zurück. »Du bist stolz darauf. Immer wenn wir uns treffen, müssen wir deine Geschichten hören. Du traktierst uns förmlich damit.«
»Aber ihr findet die Geschichten doch lustig«, wehrte sich Löffke. »Ich erfinde alles nur, um euch zu unterhalten.«
»Also behauptest du jetzt, uns anzulügen«, schloss Verena.
»Wie oft müssen wir denn Achims Erfolgsgeschichten hören, Zusammenfassungen seiner ach so wohlformulierten Urteile, die natürlich jeder Anfechtung widerstehen«, entgegnete Löffke. »Wie oft müssen wir uns die Lobhudeleien über den Gerichtspräsidenten anhören, dem er sich andient, um seine Karriere zu beschleunigen, seine feinen Winkelzüge, um über Querverbindungen an einflussreiche Juristen heranzukommen? Wie ekelhaft sind eure Kochabende mit dem feinen Herrn aus dem Justizministerium, den ihr persönlich zum Kotzen findet, der aber, wie du sagst, für dein Fortkommen geradezu strategische Bedeutung hat, Achim? – Verena, du bist nicht besser! Du vermittelst diesem Strategen über das Reisebüro günstige Reisen nach St. Moritz im Winter und nach Mallorca im Sommer. Aber die Wahrheit ist doch, dass du nicht nur die Reisen vermittelst, sondern dass ihr selbst einen Teil des Reisepreises zahlt, um sie euren Günstlingen zu einem Preis anbieten zu können, der trotz aller Prozente, die du über dein Reisebüro herausholen kannst, nicht erzielbar wäre.«
»Hubert«, schrie Frodeleit.
»Warum unterbrechen Sie den Angeklagten?«, fragte der Lautsprecher sanft.
»Weil das, was er sagt, nicht zutrifft«, erwiderte Frodeleit brüsk.
»Sie sind in der Formulierung ungewöhnlich weich«, stellte Bromscheidt fest. »Ist es nicht sogar so, dass er das Gericht beleidigt, Herr Frodeleit? – Stellen Sie sich vor, Derartiges würde Ihnen in einem
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