Tribunal
verstehen, worum es geht, Herr Frodeleit. – Ich werde Sie ab jetzt nur noch mit Herr Vorsitzender anreden. Das sagt man doch zu dem Richter, egal, ob er von der Dienstbezeichnung her Vorsitzender Richter ist oder nicht. Stimmt das?«
»Es stimmt«, nickte Frodeleit.
»Dann bitte ich die anderen, sich ebenfalls daran zu halten. Auch Sie, verehrte Frau Frodeleit. Sie spielen jetzt die Rolle der Staatsanwältin. Vergessen Sie einfach, dass Sie die Frau des Vorsitzenden sind.«
Verena nickte nervös. »Es ist ein Rollenspiel, nicht wahr? Sie nennen es selbst Rollenspiel.« Sie drehte sich verstohlen lächelnd zur Kamera.
»Zweifellos ist jeder Prozess auch ein Rollenspiel«, antwortete Bromscheidt. »Jeder spielt eine Rolle. Die Beteiligten tragen sogar so etwas wie ein Kostüm. Die Robe ist doch letztlich nichts anderes. Schauen Sie nach England: Da tragen Richter und Anwälte sogar Perücken. Das wirkt lustig, Frau Frodeleit, nicht wahr? Man denkt ständig, dass sich ganze Populationen von Läusen darin tummeln. Aber das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass alles bitterer Ernst ist. Und das gilt auch für uns. Verfallen Sie nicht dem Irrglauben, es handele sich um ein Spiel. Es ist alles bitterer Ernst hier, glauben Sie mir.«
Verena drehte sich wieder um. Sie sah ängstlich zu ihrem Mann. Doch der Vorsitzende wirkte abgeklärt und ruhig.
»Es fehlt der Angeklagte«, stellte er fest.
»Unter der Thermosflasche«, antwortete Bromscheidt.
»Wie bitte?«
»Der Schlüssel zu Löffkes Gefängnis klebt unter einer der beiden Thermosflaschen«, erklärte Bromscheidt. »Schauen Sie nach! Er ist mit Klebeband befestigt.«
Frodeleit stand auf und bückte sich. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er den Schlüssel hoch.
»Es ist Sache desjenigen, der Herrn Löffke vertritt, also seines Verteidigers.«
Frodeleit verließ den Platz hinter dem Richterpult und reichte Stephan den Schlüssel wie eine Monstranz entgegen.
»Holen Sie den Angeklagten!«, forderte Bromscheidt.
Marie nahm den Schlüssel von Stephan und öffnete die Stahltür. Obwohl sie gestern selbst einige Zeit darin zugebracht hatte, wirkte der Stollen fremd. Löffke und seine Frau saßen etwa zehn Meter entfernt auf dem Boden an der Wand. Marie hatte sie zunächst nicht wahrgenommen.
Hubert Löffke stand ungläubig auf. Marie war, als torkele er etwas. Er wirkte geschwächt und verunsichert. Dann reichte er seiner Frau die Hand. Er zog und stolperte einen Schritt nach vorn, bevor er sich mit den Füßen abstemmen und Dörthe nach oben ziehen konnte. Schließlich standen beide in der Mitte des Tunnels. Sie wirkten verlassen und überfordert. Der bullige Löffke hatte seine Schlagfertigkeit verloren. Sie kamen Marie langsam entgegen, gingen an ihr vorbei und traten schließlich in die Halle. Dörthe blieb etwas hinter ihm. Sie sah noch blasser aus als ihr Mann. Die letzten Stunden hatten die beiden mitgenommen.
Frodeleit nahm seinen Freund ins Visier und zeigte auf Stephan.
»Da ist dein Platz, Hubert. Geh zum Kollegen Knobel!«
Löffke verstand nicht recht. Er orientierte sich in der kleinen Halle, wunderte sich über das Arrangement des spärlichen Mobiliars. Er ging zu Stephan, gefolgt von Dörthe, die die vergangenen Strapazen nicht hatte verarbeiten können. Sie atmete schwer und war dem Weinen nahe. Auf ihrer und Huberts Stirn standen Schweißperlen.
Frodeleit wartete. Er wagte nicht, die ersten Worte zu sprechen: Er wollte nicht die Initiative ergreifen und sich schuldig machen. Er hatte all dies nicht gewollt, sondern sich nur gefügt. Wenn sich die Gelegenheit böte, würde er es erklären, vielleicht verklausuliert, aber doch so klar, dass Löffke die Botschaft verstehen musste. Sie waren doch immer einer Meinung gewesen, wenn sie über die frotzelten, mit denen sie in den Prozessen umgingen, sei es aus Richteroder aus Anwaltssicht. Sie nannten sie die Prozessgegenstände. Wie viel Rotwein hatten sie gemeinsam schon vergnüglich getrunken und über die gelästert, von denen sie letztlich lebten? Dörthe und Verena waren dabei auf die Rolle der Zuhörer beschränkt gewesen, vor allem wenn sich Frodeleit und Löffke über prozessuale Strategien austauschten. Dörthe lachte manchmal nach, wenn sich Frodeleit und Löffke amüsierten, und Verena tat hin und wieder das Gleiche, wenn es ihr gefiel, so wie sie anders herum verdrießlich in die Luft starrte, wenn es ihr nicht gefiel. Verena war bei diesen Vierertreffen ein nicht zu
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