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Tricks

Tricks

Titel: Tricks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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ein, und sie versuchte, ihn davon abzubringen, aber er blieb dabei.
    »Versprich es mir«, sagte er. »Versprich es mir.«
    *
    All das wegen der Dinge, die sie ihm erzählt hatte und die sie jetzt nicht mehr zurücknehmen oder abstreiten konnte.
    Manchmal hat er Interesse an mir?
    Der Alte?
    Manchmal ruft er mich ins Zimmer, wenn sie nicht da ist?
    Ja.
    Wenn sie einkaufen fährt und die Pflegerin auch nicht da ist
.
    Ein glücklicher Einfall von ihr, der ihm sofort gefiel.
    Und was machst du dann? Gehst du hinein?
    Sie tat verschämt.
    Manchmal
.
    Er ruft dich in sein Zimmer. Und? Carla? Und dann?
    Ich gehe nachsehen, was er will
.
    Und was will er?
    Im Flüsterton wurde das gefragt und geantwortet, auch wenn niemand sie hören konnte, auch wenn sie sich in der Abgeschiedenheit ihres Bettes befanden. Eine Gutenachtgeschichte, in der die Einzelheiten wichtig waren und jedes Mal vermehrt werden mussten, und das mit überzeugendem Widerstreben und verschämtem Gekicher,
ach, wie unanständig
. Und nicht nur er war scharf darauf und dankbar dafür. Auch sie. Scharf darauf, ihm zu gefallen und ihn zu erregen, sich selbst in Erregung zu bringen. Und dankbar, wenn es wieder einmal funktioniert hatte.
    Und in einem Teil ihres Bewusstseins
war
es die Wahrheit, sah sie den lüsternen alten Mann, die Ausbuchtung in der Bettdecke des an sein Bett Gefesselten, der kaum noch sprechen konnte, aber immer noch die Zeichensprache beherrschte, sein Verlangen kundtat, sie mit stupsenden und tastenden Fingern zur Komplizin machen wollte, die ihm zu Willen war. (Natürlich musste sie sich weigern, was Clark seltsamerweise ein wenig enttäuschte.)
    Hin und wieder kam ein Bild, das sie sofort ausblenden musste, damit es nicht alles verdarb. Dann dachte sie an den wirklichen, nur undeutlich erkennbaren, in Decken gehüllten Körper, der halb betäubt in seinem gemieteten Krankenhausbett jeden Tag immer weniger wurde und den sie nur ein paar Mal kurz erblickt hatte, wenn Mrs. Jamieson oder die Gemeindeschwester vergessen hatte, die Tür zu schließen. Näher war sie ihm in Wirklichkeit nie gekommen.
    Ihr hatte sogar davor gegraut, zu den Jamiesons zu gehen, aber sie brauchte das Geld und ihr tat Mrs. Jamieson leid, die verhärmt und durcheinander wirkte und umherging wie eine Schlafwandlerin. Ein- oder zweimal war Carla herausgeplatzt und hatte etwas völlig Albernes getan, nur um die Atmosphäre aufzulockern. Etwas in der Art, wie sie es tat, wenn ungeschickte und verängstigte Anfänger, die zum ersten Mal auf einem Pferd saßen, sich gedemütigt fühlten. Früher probierte sie es auch damit, wenn Clark wieder seine schlechte Laune hatte. Bei ihm funktionierte es nicht mehr. Aber die Geschichte über Mr. Jamieson hatte funktioniert. Und wie.
    *
    Es war unmöglich, allen Pfützen aus dem Weg zu gehen oder dem triefend nassen hohen Gras am Wegrand oder den wilden Möhren, die seit kurzem in Blüte standen. Aber die Luft war recht warm, sodass sie nicht fror. Ihre Kleidung war klatschnass, wie von ihrem eigenen Schweiß oder von den Tränen, die ihr zusammen mit dem Nieselregen übers Gesicht liefen. Mit der Zeit versiegten ihre Tränen. Sie hatte nichts, um sich die Nase zu putzen – das Stück Küchenkrepp war inzwischen durchweicht –, also beugte sie sich vor und schnaubte kräftig in eine Pfütze.
    Sie hob den Kopf und brachte den langgezogenen, vibrierenden Pfiff zustande, mit dem sie – ebenso wie Clark – Flora immer gerufen hatte. Sie wartete mehrere Minuten, dann rief sie Flora mit Namen. Immer wieder, erst mit dem Pfiff, dann mit dem Namen, mit dem Pfiff, mit dem Namen.
    Flora meldete sich nicht.
    Es war für sie jedoch fast eine Erleichterung, den unkomplizierten Schmerz zu spüren, dass Flora fort war, vielleicht sogar für immer, verglichen mit dem Chaos, in das sie gegenüber Mrs. Jamieson geraten war, und mit dem elenden Auf und Ab mit Clark. Wenigstens war Flora nicht fortgelaufen, weil sie – Carla – irgendetwas falsch gemacht hatte.
    *
    Im Haus gab es für Sylvia nichts weiter zu tun als die Fenster aufzumachen. Und daran zu denken – mit einem Ungestüm, das sie entsetzte, ohne sie eigentlich zu erschrecken –, wie bald sie Carla sehen konnte.
    Alle Utensilien der Krankheit waren entfernt worden. Das Zimmer, früher das Schlafzimmer von Sylvia und ihrem Mann und dann sein Sterbezimmer, war geputzt und aufgeräumt worden, damit es aussah, als sei darin nie etwas geschehen. In den wenigen hektischen Tagen

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