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Trieb

Trieb

Titel: Trieb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Krist
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angebracht.« Der Arzt verdeckte den toten Jungen wieder. »Aber falls es Ihnen weiterhilft: Was meinen Sie, warum jemand ein Kind entkleidet, es quält und am Ende tötet?«
    Auch wenn die Antwort nicht schwerfiel: Leicht zu begreifen war sie nicht. Aus Dr. Wittpfuhls grüblerischer Miene ließ sich nichts ablesen. »Sie würden mir sagen, wenn Ihnen etwas auffällt, oder?«
    »Was denken Sie denn? Natürlich!«, reagierte der Mediziner empört. »Aber ich ergehe mich nur ungern in Spekulationen. Damit ist niemandem geholfen.«
    »Können Sie mir wenigstens mitteilen, wie lange der Junge schon tot ist?«
    »Etwa zwölf, dreizehn Stunden. Ansonsten sage ich Ihnen das, was ich Ihnen schon mindestens tausendmal verklickert habe, Herr Kalkbrenner: Warten Sie bis nach der Obduktion.«

100
    Die wütende
Saturn-
Verkäuferin preschte jetzt mit hochrotem Kopf auf Tabori zu. »Was ist hier los?«
    Aber selbst wenn Tabori ihr hätte antworten können, er hätte nicht gewusst, was er sagen sollte. Er verstand ja selbst nicht, was in Aidan gefahren war. »Was ist mit dir?«, rief er hinter ihm her.
    Auf dem Bürgersteig sah er seinen Freund sich bereits an den Passanten vorbeidrängeln. Tabori sprintete los. Aidans wilder Schopf verschwand in der Menschenmenge, dann tauchte er einen Moment später wieder auf.
    »Aidan, jetzt warte doch!«
    Tabori mühte sich, ihn zu erreichen. Immer wieder musste er Umwege laufen, weil ihm die Leute den Weg versperrten. Mehrmals prallte er mit Passanten zusammen, die ihn nicht rechtzeitig gesehen hatten. Einkaufstaschen entglitten ihnen, deren Inhalt sich auf den matschigen Gehsteig ergoss. Wüste Beschimpfungen hallten Tabori hinterher.
    »Aidan, warte!«
    Doch sein Freund war fort. Taboris Blick irrte suchend durch die Menge, aber Aidans wirre Mähne kam nicht mehr zum Vorschein. Tabori wartete trotzdem. Es konnte einfach nicht anders gewesen sein, es musste sich um einen dummen Scherz gehandelt haben.
    Aber nachdem er sich fast eine Viertelstunde nicht von der Stelle bewegt hatte, gestand Tabori sich schließlich doch ein, dass Aidan tatsächlich nichts mehr von ihm wissen wollte.
    Traurig nahm er die nächste U-Bahn nach Marzahn. Die Waggons waren mit Menschen vollgepfercht, die in den Samstagabend fuhren. Sie stanken nach Schweiß und Alkohol, irgendjemand hatte Knoblauch gegessen. Tabori war das schnuppe. Ihn quälte nur eine Frage: Warum hatte sich Aidan so blöd verhalten? Aber sosehr er sich auch seinen Kopf zerbrach, Tabori fand für das Verhalten seines Freundes keine Erklärung.
    »Da bist du ja schon!« In der Hochhauswohnung empfing ihn Ludwig freudestrahlend. »Ich habe Essen gekocht. Setz dich!«
    Aus der Küche duftete es nach würzigem Braten, doch Tabori verspürte keinen Hunger. Er gab Ludwig stumm das Geld zurück, das er nicht ausgegeben hatte, und stocherte lustlos in Kartoffeln und Gemüse herum.
    »Schmeckt dir das Essen nicht?«
    »Ja, schmeckt.« Demonstrativ schob sich Tabori eine kleine Kartoffel in den Mund.
    »Was ist mit dir? Ist etwas passiert?«
    »Nein, nichts … passiert.« Das war nur die halbe Wahrheit, aber was war die ganze? »Ich … Aidan getroffen. Aidan ist … Freund.«
    »Ich versteh nicht. Wenn er ein Freund ist, warum bist du dann traurig?«
    »Aidan … kein Geld verdient. Ich … Geld bekommen. Von dir.«
    »Ich verstehe: Aidan war neidisch auf dich?«
    »Neidisch?«
    »Du hast Geld. Aidan hat kein Geld. Deshalb ist Aidan traurig. Oder neidisch. Verstehst du?«
    Tabori verstand. Neid hätte er sogar nachvollziehen können, aber Aidans Reaktion war anders gewesen. Er versuchte zu erklären: »Wollte Geld … geben. Gerne. Aidan … ein Freund. Er will nicht. Er … wütend.«
    »Wieso war er wütend? Das verstehe ich nicht.«
    Genau das war auch Taboris Problem. »Aidan sagt: Ich … Homo?«
    Skeptisch zog Ludwig die Augenbrauen zusammen. »Warum hat er das gesagt?«
    »Was ist Homo?«
    Ludwig überging die Frage. »Tabori, was genau hast du Aidan erzählt?«
    Seine sorgenvolle Miene verstörte den Jungen. »Nichts.«
    »Okay, was hast du ihm von mir erzählt?«
    »Ich sage: Ludwig mir Geld geschenkt. Ich schlafen … bei Ludwig. Ludwig ist nett.«
    »Und dann hat er Homo zu dir gesagt?«
    »Was ist Homo?«
    »So etwas sagt man nicht!« Obwohl sein Teller noch halb voll war, räumte Ludwig ihn ab. Offenbar war auch ihm der Appetit vergangen. Auf halbem Weg zur Spüle drehte er sich um. »Hat Aidan außer Homo sonst noch etwas zu dir

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