Trieb
Mutter hingegen nur noch ein trauriges Abbild ihres einstigen Ichs. Das Lieblingsnachthemd, übersät mit kleinen Rosen in verschiedenen Rosa-Tönen, schlotterte an ihrem hageren Leib. Das Gesicht war eingefallen, die Augen müde, die Haut fahl und durchscheinend wie Pergament.
»Einen schönen guten Abend«, grüßte Dr. Pliska.
Was soll daran denn schön sein?
Kalkbrenner reichte dem leitenden Arzt der Charité die Hand. Eine Schar Weißkittel baute sich wie eine Mauer hinter ihm auf.
»Paul«, flüsterte Käthe Maria mit Angst in der Stimme. »Wer ist das?«
»Das ist der Arzt. Er wird dich untersuchen.«
»Wie ist er in unsere Wohnung …?« Mitten im Satz entdeckte sie ihre Zimmernachbarin, die im Bett gegenüber schnarchte. »Was macht diese Frau hier?« Ihre Blicke irrten panisch durch den Raum. »Wo bin ich?«
»Es ist alles in Ordnung«, versicherte der bärtige Arzt. »Herr Kalkbrenner, würden Sie bitte kurz den Raum verlassen?«
Der Ermittler wartete auf dem Flur, bis die Doktoren ihre Visite beendet hatten. Während die anderen Ärzte geschlossen bereits das nächste Zimmer aufsuchten, leistete ihm Dr. Pliska Gesellschaft. »Es geht Ihrer Mutter gut.«
»Gut?«
»Nun, den Umständen entsprechend, ja. Schließlich haben nicht nur die Lungenentzündung und der Herzinfarkt ihrem ohnehin schon schwachen Körper zugesetzt, sondern auch noch die Lungenstauung und eine Niereninsuffizienz. Wenn im Pflegeheim nicht so schnell reagiert worden wäre, dann … Nun ja, Sie können es sich denken.« Obwohl Dr. Pliska die ernsten Worte nicht aussprach, machte das nicht erträglicher, was er anschließend sagte: »Aber nur, weil Ihre Mutter nicht mehr auf der Intensivstation liegt, heißt das noch lange nicht, dass sie wieder gesund ist.«
»Und was bedeutet das jetzt konkret?«
»Sagen wir es mal so: Sie hat sich erstaunlich gut erholt. Aber ihre Herzfunktion ist noch immer gestört.« Der Doktor nestelte an seinem Clipboard herum. »Und das erzähle ich Ihnen nicht, weil ich den Teufel an die Wand malen möchte, sondern damit wir uns keine falschen Hoffnungen machen. Der Zustand Ihrer Mutter ist nach wie vor kritisch.«
Kalkbrenner hatte genug gehört. Er verabschiedete sich vom Arzt und trat zurück in das Krankenzimmer. Gnädigerweise hatte die Visite das grelle Licht wieder gelöscht. Die funzelnde Nachttischlampe wies ihm den Weg zum Bett – zurück zu seiner Mutter und in die schützende Dunkelheit.
»Ist dein Vater schon daheim?«, fragte Käthe Maria. »Er muss doch gleich kommen. Sagst du ihm bitte, dass ich mich nicht gut fühle?«
»Natürlich, das mache ich.«
»Sein Essen steht im Ofen.« Sie richtete sich halb auf.
»Ich sage es ihm.«
Müde und mit wirrem Haar sank sie in das Kissen zurück. »Danke, mein Engelchen.«
Mein Engelchen.
Mit diesem Kosenamen hatte sie ihn als kleinen Jungen angeredet, und manchmal war er für sie noch heute das Engelchen. Dann warteten sie gemeinsam auf seinen Vater, der niemals von der Arbeit kommen würde, weil er schon vor Jahren gestorben war. An anderen Tagen, wenn Kalkbrenner seine Mutter besuchte, war er wieder mit Ellen verheiratet und Jessy noch ein kleines Baby. Käthe Maria reiste kreuz und quer durch die Zeit, ohne je in die Gegenwart zurückzufinden. Es war, als existiere das Jetzt für sie nicht mehr. Es war weg. Einfach verschwunden.
Wie so vieles andere auch.
Kalkbrenners Ehe. Seine Tochter. Und …
Lebst du jetzt mit ihr zusammen?
Kalkbrenner hob die Decke an, um nach der Hand seiner Mutter zu suchen. Er fand nichts als Haut und Knochen.
Nur Reste. Abfälle.
Er schämte sich, dass er selbst in dieser Situation noch an die Arbeit denken musste.
Die Frau war wirklich erbarmungslos.
Kaum vorstellbar, dass Käthe Maria mit diesen dürren Fingern und ihren schmächtigen Ärmchen einmal zwei junge Männer unter die Dusche gezogen und ihnen ihre nächtlichen Eskapaden mit eiskaltem Wasser abgeschrubbt hatte. Nach vollbrachter Tat hatte seine Mutter sie abgetrocknet, in frische Klamotten gestopft und, damit die Lehrer den Alkohol nicht rochen, mit ihrem Parfüm eingesprüht. Ausgerechnet mit 4711
.
Obwohl er Kölnischwasser immer abscheulich gefunden hatte, vermisste Kalkbrenner in diesem Augenblick den Geruch.
Eine raschelnde Bewegung an der Tür schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Hatte der Arzt etwas vergessen?
Die falschen Hoffnungen.
Doch der kleine schwarze Schatten gehörte nicht zu Dr. Pliska. »Ich wusste nicht, dass du auch hier
Weitere Kostenlose Bücher