Triffst du Buddha, töte ihn! - Altmann, A: Triffst du Buddha, töte ihn!
trägt.
Ankunft nach zwei Stunden. Das Steißbein schmerzt. Wie andere Fahrgäste verlasse ich mit seltsam gespreizten Beinen das stoßdämpferbefreite Fahrzeug. Endlich verstehe ich den Sinn des Wortes Schlagloch. Auf den 52 Kilometern zwischen den beiden Städten versprach jedes Loch einen Schlag. Doch in Kushinagar, wo niemand weiß, wie viele Einwohner hier leben, wenige vermutlich, wird vieles gut. Ich finde eine saubere Unterkunft mit einem harten Bett. Als Extraservice bekomme ich ein schrilles Läuten, sieben Mal bis Mitternacht. Das ist das Telefon, das immer dann aktiv wird, wenn der Hotel-Generator die marode Elektrizitätsversorgung ersetzt und die Lichter im Zimmer wieder angehen. Ab null Uhr ist Schluss. Dann schläft der Ort im Dunkeln, lautlos, stromlos.
Ich liege noch eine Zeitlang wach. Vor Wut. Weil ich beim Auspacken bemerkt habe, dass ich gestern Abend in Gorakhpur, im Hotelrestaurant, die Mappe mit den Zeitungsausschnitten vergessen habe. Folglich muss ich morgen dorthin zurück, ich brauche die Unterlagen. Die Diagnose lautet denkbar einfach: Mangel an Achtsamkeit, an »Geistesgegenwart«. Als ich vom Tisch aufstand, war ich in meinem Kopf nicht beim Aufstehen, sondern irgendwo anders. Vielleicht zehntausend Kilometer entfernt. Auf jeden Fall nicht »da«. Wäre es anders gewesen, hätte ich nichts übersehen. Meine Wut beruhigt sich, weil ich mich daran erinnere, dass ich (auch) aus diesem Grund nach Indien kam: um zu lernen, im Augenblick zu leben. Um immer da zu sein, wo ich gerade bin.
Um sieben sitze ich im Bus, wieder die Löcher, wieder die Schläge, wieder zwei Stunden. Dann zum Hotel und mit drei Angestellten die Rezeption durchsuchen, nein, durchwühlen. Und das indische Wunder passiert, immer wieder kommt ein Teil zum Vorschein, ein Blatt Zeitungspapier. Aus drei verschiedenen Schubladen. Es wird offensichtlich, dass der Mensch (der Ober?), der die Mappe an sich nahm, sie genau, haargenau durchsucht hat. Wohl um Papiergeld rauszufiltern. Erfolglos. Also hat er alles, nun ungeordnet, zurückgelegt. Geklaut wurde nur, was verwertbar war: der hübsche Ordner. Ich verneige mich dreimal, jage den Rikscha-Fahrer und bin um 9.35 Uhr im Bus zurück nach Kushinagar.
Hier fahren sie immer dann los, wenn (vorläufig) niemand mehr Platz hat. Ich sitze hinter dem Fahrer und neben dem anmutigen Knie einer indischen Tochter, die mit Schwester und Eltern unterwegs ist. Ich bin vollkommen unschuldig, da ich trotz spektakulärer Überbevölkerung auf zwei, drei Zentimeter Abstand achte. Nun, schon die Nähe eines männlichen Gelenks darf nicht sein. Die Mutter schreitet ein und tauscht mit der vom Unheil bedrohten Hübschen die Plätze. Die Szene hat etwas Rührendes. Wie die meisten Frauen aus der indischen Mittelklasse – so reden die Statistiken – hat die vielleicht 45-Jährige die erotische Gefahrenzone bereits verlassen. Dankzahlreicher TV-Abende bei beharrlicher Nahrungsaufnahme sitzen nun knapp zwei Zentner neben mir, die genau wissen, dass sie in Männerträumen nicht mehr auftauchen, sprich, vor jeglichen Übergriffen sicher sind.
Irgendwann kommen der Familienvater und ich ins Gespräch. Unser Thema ist das Thema im Bus: die Vorbereitungen zu den Parlamentswahlen. Es wird heftig diskutiert. Weniger über die Aussichten einzelner Kandidaten als über den Grad der Korrumpierung, den sie schon erreicht haben. Ich weiß kein Volk, das weniger Nachsicht für seine Volksvertreter zeigt als das indische. Für jede tote Ratte wird die Regierung bespuckt, für jeden fehlenden Tropfen Regen, jede kaputte Ampel. Und die Opposition kommt gleich mit in die Schusslinie. Denn die verfügte vorher über die Mehrheit und hat bereits bewiesen, dass sie versagen kann. Das wäre alles nachvollziehbar, gäbe es nicht diesen fantastischen Widerspruch. Denn freilich existiert auch kein Volk, das so hartnäckig an seinen Göttern hängt und nie auf die Idee käme, dass sie, die ewiglich Vergötterten, nicht weniger oft durchgefallen sind als die allseits bespuckten Politiker. Trotzdem, der Himmel ist ihr Fluchtpunkt, da hinein fliehen die Einwohner, wenn ihnen die Welt und die Unerbittlichkeit der Welt zu anstrengend wird. Der kolossale Vorteil ihres (indischen) Himmelreichs: Kein Jüngster Tag wurde je versprochen, kein Heilsbringer angekündigt, kein himmlisches Königreich zugesagt.
Da verzehren die Anhänger der beiden Monotheismen im Land – 2,5 Prozent Christen, etwa 14 Prozent Moslems – ein
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