Trigger - Dorn, W: Trigger
Margot ein ruhiges und beschauliches Leben geführt. Das Ehepaar wohnte in einer Eigentumswohnung mit drei Zimmern im siebten Stock eines am Fahlenberger Stadtrand gelegenen Hochhauses. Eine nette Wohngegend, die Ellen von ihren Joggingtouren entlang des Donauufers kannte.
Es war vor gut sechs Wochen passiert. Dem Polizeibericht zufolge war Böck auf seiner üblichen Donnerstags-Einkaufsrunde unterwegs gewesen, während seine Frau Margot die Abwesenheit ihres Gatten für den Wohnungsputz genutzt hatte.
Ein Nachbar hatte Böck gesehen, wie er bei seiner Rückkehr auf das Hochhaus zuging und dann plötzlich erstarrte. Ein Polizeibeamter zitierte den Zeugen mit den Worten: »Er stand da, mit seinen zwei Einkaufstaschen, und glotzte, als habe er ein UFO gesehen.«
Doch Böck hatte kein UFO, sondern seine Frau gesehen. Sie stand mit einem Bein auf dem Fensterbrett und mit
dem anderen auf gleicher Höhe im Inneren des Wohnzimmers. Angeblich hatte sie den äußeren Rollokasten über dem großen Fenster abgewischt.
Bei diesem Anblick musste Böck derart erschrocken sein, dass er den schlimmsten Fehler beging, den man in dieser Situation machen konnte: Er rief seiner Frau zu. Den Angaben des Nachbars zufolge, hallte Böcks »Margot, nein!« zwischen den beiden Hochhäusern wie ein verirrtes Echo hin und her.
Mark ließ kurz die Akte sinken und schüttelte betreten den Kopf.
»Er hat ihr zugerufen. Er war erschrocken und hat ihren Namen gerufen. Das erklärt, was er vorhin im Badezimmer gemeint hat mit: Hätte ich doch nur meine gottverdammte Klappe gehalten.«
Wie schon beim ersten Mal, als sie bei Böcks Aufnahme den Bericht gelesen hatte, konnte Ellen das Bild des erschrockenen Mannes vor sich sehen.
Es war, als liefe der Inhalt der Zeugenaussagen wie ein Film vor ihrem geistigen Auge ab – in Zeitlupe und mit erschreckender Deutlichkeit. Wie in diesen Fernsehsendungen, die vor Unfallgefahren warnten. Sendungen, die zeigten, wie ein unbeaufsichtigter Christbaum oder eine vergessene Herdplatte eine Wohnung in Brand stecken konnten, wie Leute sich beim Steigen auf Drehstühle mit Rollen alles nur Erdenkliche brachen oder dass ein Fön in der Nähe von Wasser eine tödliche Gefahr darstellte. Sendungen, die man für gewöhnlich mit einem »So dumm ist doch kein Mensch« kommentierte und dann nach der Fernbedienung griff.
Doch was den Böcks zugestoßen war, war keine Szene
aus einer Fernsehsendung im Vorabendprogramm gewesen. In ihrer Vorstellung sah Ellen, wie Margot Böck auf den Schrei ihres Mannes reagierte und sich mit einer schnellen Bewegung weiter nach vorn reckte, obwohl ihr hätte bewusst sein müssen, dass sie im siebten Stockwerk mit einem Bein auf der Fensterbank stand. Aller Wahrscheinlichkeit nach musste es sich hierbei um eine Art Pawlow’schen Reflex unter Eheleuten gehandelt haben.
Vielleicht wäre Frau Böck nicht gestürzt, wenn sie ein paar Jahre jünger und ihr Reaktionsvermögen besser gewesen wäre. Vielleicht hätte sie sich, wenn auch nur knapp, noch rechtzeitig an irgendetwas festhalten können – etwas anderem als dem Fensterflügel, der mit einem Ruck zufiel und keinerlei Halt für sie bot.
Ellen stellte sich Cornelius Böck vor. Stellte sich vor, wie er seine Frau fallen und sie für einen Sekundenbruchteil mit den Armen rudern sah, als hoffe sie, sie würden sich dadurch in Flügel verwandeln und ihr Sturz würde im letzten Moment in einen sanften Gleitflug übergehen.
Margot Böck war auf der Betonfläche neben dem Unterstand für Fahrräder und Mülltonnen aufgeschlagen. Ihr Sturz hatte keine ganze Sekunde gedauert.
»Mannomann«, stieß Mark hervor und schlug die Akte zu. »Kein Wunder, dass er einen solchen Schock hatte.«
Ellen nickte.
Sie war einige Tage nach dem Vorfall wieder an dem Hochhaus vorbeigejoggt, in dem die Böcks gewohnt hatten. Aus irgendeinem Grund, den sie nicht genau benennen konnte – am ehesten vielleicht eine Mischung aus Empathie und morbider Neugier -, hatte sie ihren Lauf unterbrochen und war zu der kleinen Rasenfläche an der
Rückseite des Gebäudes gegangen, wo man Böck gefunden hatte.
Sie hatte das Schild mit der Aufschrift
Werte Hundebesitzer,
DIES IST KEIN HUNDEKLO!
Die Hausverwaltung
gesehen, neben dem Böck gesessen und, laut der Schilderung eines Sanitäters, mit leerem Blick auf ein Zierkirschbäumchen gestarrt hatte.
Als sie dies Mark erzählte, fügte sie hinzu: »In diesem Moment verstand ich, warum er den Rückzug in sich selbst
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