Trisomie so ich dir
Die Frau versucht ein Lächeln, das Roy schüchtern erwidert, weil er nicht genau weiß, ob es wirklich ein Lächeln ist, denn in der Mimik der Frau konkrete Dinge zu lesen, fällt Roy sehr schwer. Sie wirkt sehr häufig während des Gesprächs wie ein mimikloser Lehmbrocken, der so trocken ist, dass Teile von ihm abfallen.
Irgendwann steigen die beiden dann aus, der Punkerhund und sein zerzaustes Herrchen schlummern immer noch auf der hinterletzten Bank. Roy hat immer noch seine Sonnenbrille auf, die er aber abnimmt, als sie in die Dunkelheit treten. Noch ist es nicht soweit, denkt Roy, noch kann ich diese Welt ohne den Schutz der Brille ansehen.
Roy stützt die Frau weiter, und sie gehen eine kurze Strecke zu Fuß, und wieder redet der Lehmbrocken auf ihn ein und erzählt von einer Schule, in der Kinder geschlagen werden, und sie, als sie noch ein Kind war, musste extra in den Wald huschen, wenn es ans Bestrafen ging, und den Zweig, mit der ihr dann vor ganzer Klasse der Arsch versohlt wurde, eigenhändig vom Baum biegen. Roy stützt die Frau unter den Armen, die jetzt einen Gang wie ein unterschenkelamputiertes Minenopfer an den Tag legt. Große Mühe aber, die Frau zu stützen, hat Roy nicht, denn ihr Gewicht ist sehr gering. Sie wiegt kaum mehr als ein Schraubeneimer in seiner Werkstatt. Dorthin will er übrigens nie wieder zurück, und auch seine Mutter soll jetzt mal lernen, wie sich alleine sein anfühlt.
Roy und die alte Frau stehen irgendwann, nach einigen hundert Metern Fußweg, vor dem Eingang eines Mehrfamilienhauses, und die Frau sucht in ihrer Handtasche nach Schlüsseln und sagt dabei: »Als mein Mann noch lebte, bin ich ja nie alleine aus dem Haus gegangen, wohin auch? Es gab nie einen Grund, die Wohnung zu verlassen, wenn Hermann arbeiten war.« Dann zieht sie einen Schlüsselbund hervor und beginnt zitternd die Schlüssel zu sortieren, während sie von Hermanns Arbeit erzählt. Roy hört ihr zu, warum denn auch nicht, er hat Zeit, es ist Nacht, die erste Nacht ohne die gelogene Obhut seiner Mutter, und alles ist seine Entscheidung, was er hier tut. Es war seine Entscheidung, die alte Frau in den Bus zu begleiten, und es ist ebenso seine Entscheidung, die alte Frau nun in ihre Wohnung zu begleiten.
Sie steigen einige Treppen hinauf, und die Frau wirkt jetzt sehr erschöpft. Roy muss nun etwas mehr Kraft aufwenden, um sie mitzubewegen. »Noch zwei Stockwerke«, stöhnt die Alte und ergänzt: »Riech mal, Junge, riech mal, das Mädchen, sie war wieder hier.« Roy saugt Atmosphäre in seine breite Nase und irgendwo riecht es verschimmelt, und irgendwo gut, so wie, wie, wie, ja so ähnlich wie die Solveig riecht, aber es riecht auch nach Kotze und Alkohol im Treppenhaus. Außerdem riecht es nach verschiedenen Mahlzeiten und so wie es in Fluren, durch die Menschen mit Verdauungsproblemen gehen, riecht. »Das Mädchen, das so riecht, wohnt da oben«, sagt die Frau dann noch und zeigt auf die nach oben führende Treppe. Sie hat ein leicht anstrengungsrotes Gesicht und kramt wieder am Schlüsselbund rum und macht dann die Tür auf, und dann riecht es nur noch nach alter Frau und einer Umgebung, in der sich alte Frauen aufhalten, die eigentlich schon tot sind, aber denen das noch niemand gesagt hat.
Roy ist dann in der Wohnung der Frau, und es riecht, als wäre etwas dabei, gerade zu vergammeln. Ob es die Frau selbst ist oder irgendetwas, das im Biomülleimer lebt, erschließt sich Roy nicht. Der Geruch ist ein Gestank, und allumfassend belagert er die ganze Wohnung. »Setz dich doch hin, Junge«, sagt die Frau und bietet Roy einen Platz auf ihrer Küchenbank an. »Ach, da hat der Hermann immer gesessen, genau da, wo du jetzt sitzt, da saß er jeden Abend und hat die Zeitung studiert, und über Politik hat er dann gemeckert, ich konnt ihm ja nie antworten, ich weiß nichts von Politik, aber der Hermann, der war so unglaublich klug in diesen Dingen, und dann hat er gemeckert, und ich hab ihn geliebt.« Die Sprache der Frau wird holprig und bremst in einem tiefen Seufzer, der dem Mund der Alten mit einer Geruchsmelange von altem Zwiebelkuchen, Gehacktem halb und halb und Haftcreme entweicht. »Ich mach uns mal was zu essen, Junge, du hast sicher Hunger.« Roy, der manchmal in Stresssituationen nicht die Stimme seines Körpergefühls wahrnehmen kann, spürt in sich hinein. Ja, klar hat er Hunger, die letzte Mahlzeit war das Frühstück in der Werkstatt, kurz bevor dieser Anruf kam. Roy denkt kurz an seine
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