Trisomie so ich dir
und als sie Hermann dann abgeholt haben, kannst du dir vorstellen, was da passiert ist? Denen ist der Sarg hingefallen. Ins Treppenhaus. Und dann haben sie ihn einfach so weggetragen, die Männer. Ich habe ihn geliebt, auch als er so stank, und ich habe es einfach nicht ertragen, als sie ihn abgeholt haben. Wie kann man so etwas überwinden?« Sie schaut ihn mit blutunterlaufenen, verzweifelten und rot geheulten Augen an. Der Blick trifft Roy voll ins Herz, und er denkt: »Dem kann nur entgangen werden, indem man selbst stirbt.« Aber er zuckt nur mit den Schultern, er ist ja nur behindert, die großen theatralischen Gefühle traut dem jungen Mann mit der heraushängenden Zunge ja überhaupt keiner zu. Die alte Frau denkt sich, wie sie Roy so ansieht und ihn mit ihren Geschichten ohrfeigt, was er denn schon von der Welt weiß und traut ihm lediglich Kindergefühle wie Geburtstagschönfinden oder Eisdielenwarteschlangengefühle zu. Ja, denkt sich Roy, was weiß denn er schon von der Liebe, außer dass sie das Großartigste, Erstrebens- und Erlebenswerteste ist, was er sich in seinem Kopf zurechtphantasieren kann.
Die Frau tischt dann Buttermilch auf, und beide trinken die weiße Flüssigkeit aus großen Gläsern. Roy sieht die Frau an, die ihn zurückansieht und eine Spur zuviel Mitleid in diesen Blick wirft. Er spürt eine aufkeimende Aggression gegen dieses leidvolle Geschöpf, welches einfach nicht mit seiner Klagerei aufhören kann. Ihm ist, als spräche sie lediglich, um sich von etwas frei zu machen, was sie zu belasten scheint. Roy ist nur ein Empfangsgerät, der behinderte Mülleimer für ihre Trauergeschichte. Roy verschwindet fast ganz hinter den Worten der Frau, fühlt sich wie ein menschliches Mängelexemplar, lediglich dafür verwendet, Dinge zu schlucken, die jemand anderes für ungenießbar hält.
Der Abend dauert an, wird eine Nacht, die sich zähflüssig im Raum ausbreitet. Die Frau wird schwächer und müder, klagt aber in einem fort über ihre Existenz, wie schwierig diese mit den Gesetzen des Lebens vereinbar sei und dass sie viel lieber manchmal einfach total tot wäre und die Stille, die sie dann auf dem Weg in den Himmel zu ihrem Hermann genösse, selbst davon hat sie ein Bild parat und beschreibt sie dem Roy in eindrücklichen Worten. »… wenn ich dann tot bin, ist es weiß, alles weiß, Junge, und dann kommt man in so einen Gang, ein Gang aus Wolken ist das, den muss man entlanggehen, vielleicht werden alte Menschen auch gefahren, weiß nicht so genau, auf jeden Fall ist da dieser Wolkengang, und der hat die angenehmste Stille, die man sich vorstellen kann. Es ist wie dieser Bruchteil einer Sekunde, nachdem die Oper geendet hat und bevor der Applaus einsetzt, das ist das Leiseste, was man erleben kann, Junge …« Roy ist kurz befangen und beeindruckt von der romantischen Vorstellung dieses Weges in den Himmel, dann aber kommt der Gedanke, warum eigentlich er das hier alles auszuhalten hat, diese alte Zufallsfrau, die ihn mit ihrer Todessehnsucht nervt und ihn gleichzeitig nicht mal ernst nimmt, obwohl er es doch war, der ihr eine Hand zur Hilfe gereicht hat. Roy bekommt ein Gefühl dafür, wie es ist, ein dummer Soldat zu sein, der ohne Chance zu überleben in einen Krieg geschickt wird.
Roy steht etwas unachtsam auf, macht Bewegungen, die ein Gefühl namens Fluchtreflex steuert und wirft dabei sein halbvolles Glas Buttermilch um. »Pass doch auf, Junge«, krakelt die Alte hemmungslos wütend, und reflexfast instinktartig kommt ein aggressiver Energieschub in Roys Kopf, der einige Schalter im Hirn auf einen Modus stellt, in dem Roy sich nur ganz selten befindet. Er geht zielbewusst zur Besteckschublade. Einige Lampen blinken rot hinter seinen Augen, hinter seiner Stirn glühen Drähte, und irgendeine Suppe kocht über, und Roy bewegt sich wie der Behinderte, der er ist, durch die Küche der Frau. Er nimmt einen Gegenstand aus der Besteckschublade und in seinem Kopf ist das los, was Leute nach Unfällen immer »… und dann ging alles sehr schnell …« nennen. Die Alte wird unruhig, hat immer noch eine Wut im Blick, wegen einem verdammten halbvollen Glas Buttermilch und sieht sich zu ihm um. »Musst du zur Toilette, Junge?«, fragt sie im Sitzen, »oder hast du einen Anfall? So sieht das nämlich aus, wie du hier so durch …«
Weiter kommt die Frau nicht. Ein Küchenmesser, das quer in ihrem Hals steckt und diverse Blutgefäße zerstört, hindert sie kurzzeitig am Sprechen, und sie
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