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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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Mutter und wie sie wahrscheinlich jetzt vor lauter Sorge um ihn in der Wohnung auf und ab geht und an seinen Vater, den er sich als Leiche gut vorstellen kann, war er doch zu Lebzeiten kaum etwas anderes.
    Sie setzen sich in die Küche auf die alten, leicht brüchig wirkenden Holzstühle. Die Küche wirkt wie die Küche von jemandem, dem Ordnung weniger wichtig als das Hinterlassen von Speiseresten und Küchengeräten auf der Arbeitsplatte ist. Einige Besteckschubladen stehen offen. Ein Schrank auch, darin befinden sich Tassen und Teller, wahllos und völlig systemfrei durcheinander drapiert. Der Geruch von Muffigkeit ist überall, verdammte Muffigkeit, denkt Roy, und dann fragt er sich, was Muffigkeit denn eigentlich genau ist. Muffigkeit, so stellt er nach kurzem Grübeln fest, ist das olfaktorisch wahrnehmbare Kombinat aus gemischten Essensresten, die irgendwo vergammeln, weil vergessen, und der dezenten Hygieneverweigerung einer alten Frau. Die Muffigkeit ist in allem, was hier so rum steht, an jeder Gabel, an jeder Tasse, an jedem Quadratmillimeter fettiger Schmiertapete klebt sie und feiert sich selbst.
    Die alte Frau hat eine Dosensuppe zubereitet und einen Teller davon vor Roy hingestellt und eine einladende Handbewegung gemacht. In der Suppe schwimmen Pilze und Fleischbröckchen unbekannten Ursprungs. Wenn Roy es nicht besser wüsste, er würde sagen, dass das Teile von der alten Frau sind, sich lösende Lehmbrösel, Teile, die wegen ihrer Trauer und wegen ihres Nicht-mehr-könnens einfach von ihr abgefallen sind und jetzt der Suppe als Fleischbeilage dienlich sind. Die Pilze hatten auch schon bessere Tage, als sie noch jung und erfolgreich waren und man sie Champignons nannte. Jetzt sind sie lediglich leidvoll verkrüppelte Suppenzutaten, die auf der Oberfläche schwimmen.
    Sie hat sich ihm gegenüber hingesetzt und sich ebenfalls einen Teller mit lauwarmer Suppe gefüllt und für die Dauer des Essvorgangs endlich mal geschwiegen. Die Suppe schmeckte wie von abgelaufenem Verfallsdatum betroffen, aber Roy hatte Hunger, und auch die Frau löffelte hastig über ihrem Teller. Das Schweigen der Frau tut Roy gut, ständig penetriert sie ihn mit ihrem Leid, als ob es das einzige jemals auf der Weltoberfläche stattgefundene Leid sei. Roy nickt das Leid der Frau ab, aber eigentlich will er nicht davon hören, wie schlecht es ihr geht und dass die Welt ein Planet ist, der nur böses plant und Leute wie Hermann einfach durch Krankheiten oder Tod am Leben gehindert werden. Roy will das nicht hören, hat er doch genug mit seinem Leben zu schleppen, ein Leben, das wie ein Rucksack mit Steinen an ihm klebt, aber zwischen den Felsbrocken, die auf ihm lasten, fühlt Roy immer noch sein Herz schlagen, fühlt die Momente, in denen es aus dem Takt gerät, weil er Solveig nah sein darf, oder weil irgendwo ein schöner Schmetterling irgendetwas komplett unverdächtiges und trotzdem weltumspannedes tut. Seine Sensibilität lässt das Leid der Frau so nah an ihn heran, aber so nah will er es gar nicht haben, und die Frau neigt wohl dazu, sich leer zu quatschen, um ihre eigene Lebensscheiße klein zu reden, frei nach dem Motto, das geteiltes Leid halbiertes Leid sei.
    Kurz nachdem sie das letzte Pfützchen Suppe in sich aufgesogen hat, fängt sie wieder an, in dieser leidenden Art zu sprechen. Sie sagt diverse Sätze, für Roy wirken diese zusammenhanglos, aber alle haben einen derartigen Druck, dass er sich ihnen nicht einfach entziehen kann. Sie sagt so Sachen wie: »Ich habe gemerkt, dass die Zeit keine Wunden heilt, sie vergeht nur, und die Wunden müssen extra behandelt werden« oder »Die bei immensem Vermissen einer unerreichbaren Person empfohlene Methode, so lange bitterlich zu weinen, bis sich ein erlösender Tod einstellt, die klappt nicht. Ich habe geweint, bis ich nicht mehr konnte, aber ich bin davon nicht gestorben«, und jede Zeile, die sie sagt, schlägt Roy wutüberströmt entgegen. Ja, sie meint wohl tatsächlich, sie könne ein paar Gramm Gram an Roys felsenharter Elefantenhaut abreiben, nur um selber besser dazustehen mit ihrem erkrankten Gefühlsapparat. Würde Roy sprechen, würde er ihr Sätze sagen, die die alte Frau auf den Beton der Tatsachen zurück begleiten würden, aber Roy spricht nicht, und die Alte spektakelt weiter ihr hundeelendes Leben zutage und wirkt dabei wie eine aus dem Bergbaustollen kriechende Arbeiterfrau, die versucht, sich mit blinzelnden Augen an das Tageslicht zu gewöhnen.
    »…

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