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Trisomie so ich dir

Trisomie so ich dir

Titel: Trisomie so ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Bernemann
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Ingeborg in zwei krumme, verchromte und kalte Beinschalen legen, und der Arzt untersuchte sie lange und ausgiebig im Inneren ihres Unterleibs. Das war nicht sehr würdevoll, aber Ingeborg ließ es passieren, weil sie ja wissen wollte, wie sie denn doch noch zu einem Kind käme, weil das doch zur Vervollständigung des ehelichen Glücks von akutem Belang war. »Sie sind gesund, es liegt wohl an ihrem Mann«, sagte der Arzt trocken und gab ihr noch trockener die Hand, und Ingeborg stand dann da, hilflos der Wahrheit ausgeliefert, die doch eigentlich eine gute und schöne Wahrheit war, aber wie sollte sie das Hermann zustellen? Sie konnte doch nicht ihrem geliebten Mann unproduktives Sperma unterstellen. Der Gedanke, so erinnert sich Ingeborg, erfüllte sie mit Schamgefühl, ganz voll war sie davon, von diesem Schamgefühl, das Schamgefühl, eine gesunde Frau zu sein. Sie ging betreten heim, langsame, kleine Kinderschritte machte sie, die das Ankommen verzögern sollten. Was denn der Arzt gesagt habe, wollte dann Hermann zuhause wissen, und Ingeborg schämte sich immer noch und log: »Meine Gebärmutter ist erkrankt, nicht schlimm, aber wir sollen es weiter weiter versuchen, das mit dem Kind.« Hermann machte diverse »hab-ichdoch-gewusst« Gesten. Sie haben es dann weiter versucht, natürlich erfolglos und irgendwann dann gar nicht mehr, und das Wunschkind fiel einfach unter den Tisch, unter den gut geputzten Wohnzimmertisch fiel es, und die Rechtfertigung Hermanns bestand aus Ingeborgs scheinbar erkrankter Gebärmutter.
    Ingeborg hustet jetzt, hustet und fühlt, wie mehrere Urintropfen inkontinenzbedingt in die Wolle ihres Schlüpfers kriechen. Ihr wird man so was verzeihen. Sie ist alt, woher sollen die Schließmuskeln noch wissen, wie man einen Harnleiter komplett abdichtet? Ingeborg hustet, es tropft auf den Sitz, Roy guckt und lächelt.
    Endlich sind sie da, und Ingeborg sagt, dass sie nun da sind, und Roy steht auf, und Ingeborg kann sich an seinen Unterarm klemmen und wird hochgezogen von seiner Stärke, und Roy denkt, dass es cool ist, eine alte Frau vom Sitz hochzuziehen und ihr so zur Mobilität zu verhelfen. Zu oft ist es doch so, dass er der ist, der irgendwo sitzt, und die Leute auf ihn zukommen, um ihn mit ihren couragierten »Aktion Mensch«-Gesichtern mit unvorteilhaft falscher Liebe anzugucken. Und dann helfen sie ihm an Plätze, wo er gar nicht sein will, und die zugewiesene Hilfe tut nur den Helfern, nicht aber dem Geholfenen gut. Roy konnte immer schon die Blicke der Leute identifizieren, die es mit ihm nicht ernst meinten, die nur aufgrund seiner Behinderung bei ihm sind, um ihr eigenes Leben aufzuwerten. Bei Ingeborg ist sich Roy nicht ganz sicher, sie scheint alt und unbeholfen zu sein, nicht unbedingt eine typische Helfersyndromtante.
    Hier und heute kann Roy seine ganze Soziabilität in die Waagschale werfen, und er begleitet Ingeborg sanft aus dem Bus, und sie sagt: »Da lang« und deutet in eine Richtung. Roy hält die Ingeborg ganz eng bei sich, wie einen zerbrechlichen Schatz. Sie schleicht an seinem Unterarm unter den Straßenlaternen, die aus ihnen einen seltsamen Schatten machen. Der Schatten sieht aus wie ein langsam kriechendes Tier mit zwei Köpfen, einem fetten Unterleib und vier Beinen, die alle viel zu nah aneinander montiert sind. Und das Vieh kriecht durch die Nacht und fühlt sich zunächst mal gut.
    Gott hätte fast einen Hello-Kitty-Plüschtheater-Anfall bekommen, bemerkt dann aber wieder seine Niedlichkeitsphobie und brüllt nicht »oh, wie süß« oder »nein, wie toll«, sondern besinnt sich, auf das, was passiert. Rollentausch. Der Hilfebedürftige hilft. Krasser Scheiß, da ist jemand echt unterwegs, also dieser Roy, und vertritt einen kapitalen Grundsatz des katholischen Glaubens. Es muss sich dabei um einen krass gelangweilten Idioten handeln, mutmaßt Gott und läßt dann noch mal einige Gesichter, die er bei Papstbesuchen oder Kirchentagen so gesehen hat, Revue passieren. Dieses selbstlose Helfen, denkt Gott, kann einfach nicht echt sein, was ist der Typ, behindert oder was?

Ich habe keine Lust zum Geräusch meines brechenden Herzens auch noch zu tanzen
    Die alte Frau, findet Roy, spricht zuviel. Und immer leidet sie dabei. Zwischendurch klingt ihre Stimme dabei wie die Stimme dieser Frau, die Roy mal im Fernsehen gesehen hat und die vier oder fünf Tage nur gemeinsam mit einer Flasche Fanta im Bergwerk verschüttet war. Roy hat ein Interview mit dieser Frau gesehen,

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