Trisomie so ich dir
und ganz grau war die Frau, und ihre Stimme hatte so einen erbärmlichen Unterton, hatte versteckte »eigentlich-will-ich-nichts-mehr-vom-Leben und habe damit abgeschlossen«-Botschaften darin. Und sie schmiedet Sätze, die wie Gewehrkugeln um Roys Ohren fliegen.
Vorhin saßen sie noch an der Haltestelle. Die alte Frau erzählte aus ihrem Leben, und es fing an, dieses Leben, mit viel zu vielen Geschwistern, die alle viel zu viel Hunger hatten, und für die alte Frau ist dann oft nichts oder nur nicht so Leckeres übrig geblieben. Danach kamen die Jahre der Kartoffelernte und ein kaputter Rücken mit 15 Jahren, und dann kam irgendein Retter namens Hermann in ihr Leben geschwebt, der einfach nur da war, und das kam der Frau gelegen. Sie sprach über Jahre der Entbehrungen und verglich Schlimmes mit Schlechtem und klagte in einem fort über den Aufwand des Lebens, wie hoch dieser doch sei, und sie metaphorisiert, dass man so oft vor unüberwindbaren Mauern stünde, gerade als alter Mensch. Roy vergleicht sein individuelles Leid mit dem, was die Frau so erzählt, und er fühlt eine Nähe in diesen Worten. Alte und Behinderte, dachte er noch, sind zwei Randgruppen, die irgendwie dieselben Feinde haben. Der Bus kam herangerauscht, Roy half der alten Frau beim Aufstehen und sie stöhnte wie eine Kriegsversehrte, und Roy hatte ja fast Angst, die dürre Frau zerbräche in seinen Händen, aber sie blieb dennoch stabil und ließ sich mitzerren. Zischend ging die Tür auf.
Dann sind sie, Roy und die alte Frau, gemeinsam in den Bus eingestiegen, in die Linie 16, und die Frau zeigte ihren Fahrausweis, und Roy wurde vom Fahrer so durchgewunken. Das kennt der Roy, diesen Behindertenbonus, da muss man keinen Schwerbehindertenausweis mit sich führen, wenn man ein Gesicht wie Roy hat. Roy also wurde durchgewunken, die alte Frau lief vor ihm her. Es ärgerte ihn ein wenig, einfach so wegen seines Gesichts beurteilt zu werden. Hat einer also ne dicke Zunge, darf er umsonst Bus fahren, oder was? Roys Zorn kochte auf kleiner Flamme, aber er kochte und blubberte. In einer gewissen Beständigkeit.
Die beiden stiegen also ein, und Roy stützte die Frau unter den Armen, und sie hinkte leicht. Sie setzten sich nebeneinander auf eine Zweierbank direkt hinter dem Fahrer, der den Bus anschließend wieder sanft durch die Nacht gleiten ließ. Die Nacht ist mit Dunkelheit verhangen, und das künstliche Licht im Bus machte Roy und die Frau blinzeln, aber Roy reagierte darauf, indem er aus seiner Jackentasche seine Sonnenbrille zog und sie sich galant aufsetzte. Er überlegte, diese Sonnenbrille als dauerhaftes Accessoire beizubehalten, weil es neben dem Nichtsprechen noch deutlicher macht, was Roy von der Welt hält. Die Frau redete unbeirrt weiter, ließ ihr altes, unbrauchbares Leben aus sich rausfließen.
Auf der hintersten Bank lag ein abgerissener und schlafender Punk, der den Kopf auf den Bauch seines Mischlingshundes fallengelassen hatte, der ebenfalls flach atmend schlief. Sonst war niemand im Bus, außer der pflichtbewusste Fahrer. Die Welt war in das kleine Universum dieses Stadtbusses eingefangen, und es hätte so schön und friedlich sein können, wenn nicht die alte Frau in ständiger Wiederholung ihr eigenes Leid durch ihre dritten Zähne hätte pfeifen müssen.
Roy glaubt, dass da nichts ist, was die alte Frau schön finden kann. Noch als sie im Bus gesessen haben, war Roy fast mit ihren ganzen Leben vertraut und er war nicht gern mit diesem Leben vertraut, denn das Leben wirkt so verfault wie ein Leben nur sein kann. Das war so ein Leben, das zulange an der Heizung gelegen hatte und jetzt Flecken davon hat und vergammelt riecht und auch so aussieht. »Weißt du, Junge, seit mein Mann tot ist, neige ich zu erheblichen Depressionen. Ich wünschte, ich wäre vor ihm gestorben. Ich fühle mich sehr einsam, sehr allein. Kinder hatten wir ja keine. Mein Hermann hat ja Karriere gemacht, Büroartikel. Alles so schön sauber. Immer sauber, der Hermann, sogar an seiner Arbeit.« Roy schweigt, manchmal atmet er schwer, wenn die Frau Luft holt, um eine weitere Erzählattacke zu starten, er atmet schwer, um der Schande dieses alten Lebens ein wenig unterstützenden Ausdruck zu geben. Kurz bevor sie aussteigen, sagt die Frau noch einen sehr traurigen Satz: »Manchmal, so wie heute, fahr ich einfach so mit dem Bus, und zwar gar nicht, weil ich irgendwo hin muss, sondern einfach nur, weil man im Bus sehr leicht mit Leuten ins Gespräch kommt.«
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