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Trojaspiel

Trojaspiel

Titel: Trojaspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Hoepfner
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bedeutete, daß jemand in Not war, daß eine unerfahrene, vielleicht verzweifelte Frau ohne Beistand oder Familienanschluß auf ihre Hilfe rechnete. Ganz arm konnte die Kundin auch nicht sein. Trotzdem hatte es die Hebamme nicht eilig. Bis in die frühen Morgenstunden war sie bereits tätig gewesen und dabei auch noch gut bewirtet worden, was für den Mangel an Schlaf ein wenig entschädigte. Die Geburt bei der Gorpischenka war problemlos verlaufen, die Mutter hatte bereits sechs Kinder auf die Welt gebracht, und in solchen Fällen waren Hebammen eigentlich nur für den Fall nötig, daß es zu Komplikationen kam. Das fette Essen und der Wodka lagen der Kotusova jedoch schwer im Magen, sie fühlte sich beschwipst, und als sie nach Hause gekommen war, hatte ihr Nichtsnutz von einem Ehemann nichts Besseres zu tun, als sich darüber zu beschweren, daß sie ihm nichts von den Köstlichkeiten der Gorpischenkoschen Tafel mitgebracht hatte. Er war nach einem Abend in Verniks Weinschenke, den er mit Volodja Feodorov, dem Leierkastenmann, und Sascha Goremykin, einem abgerissenen Arbeiter aus Valtus’ Zinnfabrik, zugebracht hatte, so betrunken gewesen, daß sie ihn mühsam ausziehen und ins Bett hieven mußte.
       Zum Dank dafür hatte er sie mit Faustschlägen traktiert und so etwas wie Räuber oder Halsabschneider gegrunzt, worüber sie fast lachen mußte, denn die einzige in ihrem Einzimmer-Haushalt, die seit mehr als einem Jahr Geld verdiente, war sie selbst. Und der Gedanke, daß sie ihm die Rubel, die er versoffen hatte und die sie selbst in den stickigen, von Armut, Schmerz und flüchtiger Mutterschaftseuphorie erfüllten Kammern der Moldavanka erarbeitet hatte, stehlen könne, war einfach zu komisch.
       Seine Rettung vor der Scheidung, die sie ihm androhte, wann immer (etwa täglich) sie sich stritten, war einzig und allein der Umstand, daß er impotent war (worüber sie als Hebamme, oder weil sie tatsächlich einen kleinen Rausch hatte, jetzt wieder leise lachen mußte. Was für ein Treppenwitz! Der Mann der Hebamme war impotent!). Die Ein-Rubel-Katjas und Minnas hätten ihn nur ausgelacht, wenn er zur Sache gekommen wäre. Nein, zu Prostituierten ging er nicht, und eine Freundin, die einen schmerbäuchigen, saufenden, impotenten Mann ohne Arbeit begehren konnte, der so schön war wie ein schiefgelaufener Absatz, die gab es selbst in der Moldavanka nicht.
       Die Schönheit ihres Gatten hatte in den Augen der Kotusova vor Jahren einmal darin bestanden, daß er ein ziemlich gerissener Tango-Tänzer gewesen war und auf den sommerlichen Festen im Alexanderpark nicht wenige Blicke auf sich zu ziehen verstand, auch hatte er immer einen sauberen Papierkragen getragen und ihr gelegentlich einen Strauß Maiglöckchen oder Nelken mitgebracht, die er im Stadtpark oder im Duchovskigarten für sie gepflückt hatte.
       Das Lächeln war der Kotusova bei diesem Gedanken schlagartig vergangen. Dem Mann, der da schnarchend und stinkend auf dem Ehebett lag, immer so geschickt ausgestreckt, wie tief auch sein Rausch sein mochte, daß kein Platz mehr für sie gewesen wäre, selbst wenn sie es über sich gebracht hätte, sich neben ihn zu legen – diesem Mann war es einmal gelungen, sie glücklich zu machen. Diese Vorstellung erschütterte die Kotusova und erfüllte sie mit einem solchen Haß, daß eine Frau, die dem Leben weniger verpflichtet gewesen wäre als sie, vielleicht ein Kissen genommen, auf sein Gesicht gelegt und sich daraufgesetzt hätte. Der Gedanke an Scheidung war aussichtslos, auch wenn er ihr nach dem kurzen Streitgespräch über das köstliche Essen der Gorpischenkos nicht nur eines, sondern beide Augen blau geschlagen hätte. Scheidungen waren in der orthodoxen Kirche schwerer zu erreichen als eine Heiligsprechung, und sie waren nahezu unmöglich, wenn der Ehemann nicht fremdging, nach Sibirien verbannt wurde – oder impotent war. Aber den Hinweis auf seine Schwäche würde sie niemals mehr ins Feld führen können. Wenigstens nicht, ohne sich selbst zu kompromittieren. Die Sterbeurkunde für das Kind, das sie vor vier Jahren zur Welt gebracht hatte und das nur wenige Wochen nach der Geburt an einer Lungenentzündung sterben mußte, war seine Rettung. Das Kind, das sie von einem durchreisenden Taxidermisten aus Petersburg empfangen hatte . . .
       Die Kotusova bemerkte voller Abscheu, wie auf einmal Tränen über ihr Gesicht liefen, und sie bemerkte, daß sie noch immer den Umschlag und den

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