Tropfen im Ozean
hübschesten. Falls ich’s noch nicht erwähnt habe.
„Das Internet ist die Zukunft!“ prophezeite er mit grau-strahlenden Augen, als sei er der erste mit dieser Erkenntnis. „Jede Firma, und sei sie so noch so klein, braucht einen Internet-Auftritt. Wir spezialisieren uns auf Kleinbetriebe, die in den Mittelstand wachsen. Wir machen ihre Homepages, texten die Slogans, entwerfen eine individuelle Werbestrategie inklusive Autoaufkleber, Schaufensterbeschriftung, Zeitungsannoncen, weiß der Geier, was noch und : wir bieten ihnen einen Firmenfilm ! Die Mittelständler und Kleinunternehmer denken, das ist nur was für Große... und dass es zu teuer ist. Ist es aber nicht, weil es uns gibt! Wir machen das für die erschwinglich! Früher oder später wird jeder einen Jean-Colbert-Film haben wollen!“
Er steckte mich mit seinem Enthusiasmus und seiner Unbekümmertheit dermaßen an, dass ich mir gar keine weiteren Gedanken mehr machte. Rückblickend weiß ich nicht, ob ich das Ding sonst angefasst hätte, denn nicht alle Ideen von ihm hatten Hand und Fuß. Aber er gab mir freie Hand und ein ausreichendes Budget. Ich sollte Webdesigner einstellen, Kameramänner, mich um das Equipment kümmern und überhaupt den ganzen Apparat aufbauen, den ein Filmstudio und eine Marketingfirma so brauchten.
Am Ende seiner Präsentation saß er mir gegenüber und öffnete eine Flasche Sekt:
„Und?“ fragte er und drückte mir das Glas in die Hand. „Traust du dir das zu?“
Mit seinen blitzenden grauen Augen strahlte er mich an und ich wäre in diesem Moment auch aus einem Fenster im 13. Stock gesprungen, wenn er das gewollt hätte.
„Logo“, antwortete ich also und J warf die Arme in die Höhe, stand auf, ging um den Tisch herum, riss mich hoch und küsste mich, einfach so mir nichts dir nichts, auf den Mund.
Da kannten wir uns gerade mal zwei Stunden.
An diesem Tag segelte ich nach Hause. Spürte seinen Kuss auf den Lippen, den Duft des Neuanfangs, fühlte Glück in meiner Brust. Selig lag ich in meiner Studentenbude und träumte vor mich hin. Von meinem Job. Und von J.
Es gab keine Millisekunde Übergangszeit. Er hatte mir einen Vertrag vorgelegt mit einem Gehalt, das mich schwindlig werden ließ und jede weitere Diskussion im Keim erstickte. Der Passus, dass alle im Haus entstandenen Werke urheberrechtlich der Firma gehörten, war üblich und die Konsequenz, dass alles den Namen Jean Colbert tragen sollte, interpretierte ich damals anders.
Alles wurde leichter ab dem Moment, da J in mein Leben trat. Mit dem Vertrag in der Hand ging ich am Montag zur Bank, wurde entsprechend höflich behandelt, regelte meine Angelegenheiten und legte ein Sparkonto an, auf das ich jeden Monat einen festen Betrag überwies. Meine Berechnungen ergaben, dass mein Konto bereits nach drei Monaten komplett saniert sein würde - ein befreiendes Gefühl! - und ich konnte über neue Anschaffungen wie ein Auto, eine neue Wohnung nachdenken. Und neue Klamotten.
Ich sah an mir herunter. Die Hose spannte, der Bauch quoll über den Bund und ich spürte den Zwickel der Unterhose unangenehm zwischen meinen Hinterbacken.
„Auch das ändere ich“, schwor ich mir. „Ich werde wieder Sport treiben und mich gesund ernähren. Und dann kaufe ich mir neue Kleidung, aber erst dann.“
***
Als nächstes rief ich meine Eltern an und teilte ihnen die frohe Botschaft mit, in dem Bewusstsein, endlich etwas richtig gemacht zu haben.
„Na, so was“, sagte meine Mutter auf meine erwartungsvolle Ansage. „Ich geb’ dir mal den Papa“. Geflüster, Getuschel. Ich hörte ein unterdrücktes: „Was? Jetzt? Ich kann grad n...“
Etwas heftigeres Getuschel, ein großer Seufzer, Geräusche – der Hörer wurde weitergegeben. Meine Stimmung war in der Tiefsee.
„Ich dachte, du hättest schon längst was“, grätzte mein Vater und ich hörte seine Finger über die Tastatur seines Computers fliegen. „Mit über 30 seinen ersten Job zu haben, ist nicht unbedingt etwas, auf das man stolz sein kann. Und von der Firma hab ich noch nie was gehört“.
Frustriert biss ich mir auf die Lippen. Wie oft hatte mir gewünscht - und die Hoffnung bis heute nicht wirklich aufgegeben - in ihnen beste Freunde zu haben – so wie Anne mit ihren Eltern. Menschen, die dir sagen, dass sie dich lieben. Die sich mit dir freuen, wenn es dir gut geht und die da sind, wenn es anders ist. Ich weiß, man sollte seine Eltern lieben, aber manchmal fiel mir das
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