Tropismen
mit, um es »spazierenzuführen«, und überquerten sie die Straße, dann drückte er die kleine Hand fest in seiner warmen Hand, die sie einschloß, und er mußte sich zurückhalten, daß er die Fingerchen nicht zerquetschte beim Hinübergehen, während er mit unendlicher Vorsicht nach links und dann nach rechts schaute, um ja sicher zu sein, daß sie genug Zeit hatten, genau zu sehen, ob nicht ein Auto käme, damit sein kleiner Schatz, sein kleines liebes Kind, dieses kleine, lebendige und zarte und vertrauende Etwas, für das er die Verantwortung trug, nicht überfahren würde. Und er lehrte es, beim Überqueren lange zu warten, gut aufzupassen, aufzupassen, aufzupassen, überhaupt sehr aufzupassen, wenn man auf dem Fußgängerstreifen über die Straße ging, denn »es braucht so wenig, nur eine Sekunde Unaufmerksamkeit genügt, einen Unfall herbeizuführen«.
Und gerne sprach er zu ihnen von seinem Alter, seinem hohen Alter und von seinem Tod. »Was wirst du sagen, wenn du keinen Großvater mehr haben wirst, wenn er nicht mehr da sein wird, dein Großvater, denn er ist alt, du weißt, sehr alt, bald wird es für ihn an der Zeit sein zu sterben. Weißt du, was man macht, wenn man tot ist? Auch dein Großvater hatte eine Mama. Ach, wo ist sie jetzt? Ach, ach! wo ist sie jetzt, mein Liebling? – sie ist abgereist, es gibt keine Mama mehr, sie ist seit langem tot, seine Mama, sie ist abgereist, es gibt sie nicht mehr, sie ist tot.«
Die Luf war unbeweglich und grau, ohne Geruch, und zu beiden Seiten der Straße erhoben sich die Häuser; die flachen, verschlossenen und unheimlichen Massen der Häuser umgaben sie, während sie langsam auf dem Gehsteig weitergingen und sich an der Hand hielten. Und der Kleine fühlte, wie irgend etwas auf ihm lag, ihn lahmte. Eine weiche und erstickende Masse, die man ihn unerbittlich verzehren ließ, unter sanftem, aber entschlossenem Zwang, indem man ihm leicht die Nase zuhielt, damit er sie hinunterschluckte, damit er nicht Widerstand leisten konnte – sie drang in ihn ein, während er fromm und sehr artig dahinlief, gelehrig die kleine Hand reichend, sehr vernünfig mit dem Kopf nickend, und während man ihm erklärte, mit welcher Vorsicht man immer weitergehen und genau zuerst nach links, dann nach rechts schauen und gut aufpassen müsse, gut aufpassen, aus Angst vor einem Unfall, wenn man auf dem Fußgängerstreifen auf die andere Seite ging.
IX
Sie saß zusammengekauert in einem Winkel des Fauteuils, sie wand sich, der Hals war gereckt, die Augen traten hervor: »Ja, ja, ja, ja«, sagte sie, jeden Teil des Satzes mit einem Kopfschütteln billigend. Sie war fürchterlich, sanf und geistlos, ganz glatt, und nur ihre Augen traten hervor. Sie hatte irgend etwas Beängstigendes, Beunruhigendes, und ihre Sanfmut war eine Drohung. Er fühlte, daß man sie um jeden Preis wieder aufrichten, besänfigen mußte, aber daß es nur jemand mit übermenschlicher Kraf könnte, jemand der den Mut hätte, ihr gegenüber zu bleiben, hier, bequem sitzend, behaglich ausgestreckt in einem anderen Fauteuil, der es wagen würde, sie ruhig anzusehen, direkt ins Gesicht, der ihren Blick auffinge und sich nicht abwendete, wenn sie sich krümmte. »Nun, wie geht es Ihnen denn?« – das würde er wagen. »Nun! Wie fühlen Sie sich?« würde er sich trauen ihr zu sagen – und dann warten. Daß sie spräche, daß sie handelte, daß sie sich offenbarte, daß es endlich herauskäme, ausbräche – er würde sich davor nicht fürchten.
Er aber hätte nie die Kraf, es zu tun. Daher
mußte er es möglichst lange bezähmen, verhindern, daß es hervorkäme, hervorsprudelte, es um jeden Preis, gleichgültig wie, in ihr zusammenpressen. Aber was denn? Was war das? Er hatte Angst, er begann sich zu verwirren, es war keine Minute zu verlieren, er mußte überlegen, nachdenken. Und wie immer, seitdem er sie kannte, begann er diese Rolle zu spielen, zu der sie ihn gewaltsam, durch eine Drohung, so schien ihm, drängte. Er begann zu sprechen, ohne Pause zu sprechen, gleichgültig von wem, gleichgültig wovon, begann sich schnell, schnell hinund herzubewegen (wie die Schlange vor der Musik? wie die Vögel vor der Boa? er wußte nicht mehr), ohne stillzuhalten, ohne eine Minute zu verlieren, schnell, schnell, solange es noch Zeit war, sie zurückzuhalten, ihr zu schmeicheln. Sprechen, aber wovon sprechen? von wem? von sich, natürlich von sich, von den Seinen, von seinen Freunden, von seiner Familie, von ihren
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