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Tropismen

Tropismen

Titel: Tropismen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Sarraute
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Sie mußte sie haben. Für sich. Für sich, denn sie wußte jetzt den wahren Preis der Dinge. Sie mußte die Geistigkeit haben. Und eine große Zahl, die war wie sie, dürstende und gnadenlose Parasiten, Blutegel an den Aufsätzen, die erschienen, Schnecken, die überall klebten und ihren Schleim über Stellen von Rimbaud zogen, Mallarme lutschten, sie einander weitergaben und den Ulysses oder Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge mit dem Leim ihres niedrigen Begreifens bestrichen.
    »Das ist so schön«, sagte sie, und mit einer reinen und inspirierten Gebärde schlug sie die Augen auf und steckte in ihnen einen »göttlichen Funken« an.

XII

    In seinen sehr besuchten Vorlesungen am College de France machte er sich über all das lustig. Er fand Gefallen daran, mit fachwissenschaflichem Gebärdenspiel und einer unerbittlichen und sachkundigen Hand bei Proust oder bei Rimbaud im verborgenen zu wühlen, und während er vor den Augen seines sehr aufmerksamen Publikums ihre angeblichen Wunder, ihre Geheimnisse ausbreitete, erklärte er »ihren Fall«.
    Mit seinen kleinen, durchdringenden und boshaften Augen, seiner Allerweltskrawatte und seinem rechteckigen Bart glich er außerordentlich dem Herrn auf der Reklame, der lächelnd und mit erhobenem Zeigefinger empfiehlt: Saponit – das gute Waschmittel, oder Modell Salamander: sparsam, sicher, komfortabel.
    »Das ist nichts«, sagte er, »Sie sehen, ich habe es mir selbst angeschaut, denn ich lasse mir nicht gern etwas weismachen: nichts, was ich nicht selbst schon tausendmal untersucht, eingereiht und erklärt hätte.
    Sie sollen sie nicht aus der Fassung bringen. Sehen Sie, unter meinen Händen sind sie wie kleine Kinder, zitternd und nackt, in meiner hohlen Hand halte ich sie Ihnen hin, als wäre ich ihr Schöpfer, ihr Vater, ich habe sie ihrer Macht und ihres Geheimnisses entleert, und was es in ihnen an Wunderbarem gab, habe ich umzingelt und nicht in Ruhe gelassen.
    Jetzt sind sie kaum zu unterscheiden von jenen intelligenten, jenen kuriosen und amüsanten Narren, die zu mir kommen und mir ihre endlosen Geschichten erzählen, damit ich mich mit ihnen beschäfige, sie beurteile und beruhige.
    Und Sie werden sich nicht beunruhigen lassen, nicht mehr als meine Töchter, wenn sie im Salon der Mutter ihre Freundinnen empfangen und artig schwatzen und lachen, ohne sich darum zu kümmern, was ich im Nebenzimmer zu meinen Kranken sage.«
    So lehrte er am College de France. Und überall ringsum, an den Nachbarfakultäten, in den Vorlesungen über Literatur, Recht, Geschichte oder Philosophie, im Institut und im Gericht, in den Autobussen, in der Metro, in allen Ämtern, triumphierte der vernünfige Mensch, der normale Mensch, der tätige Mensch, der würdige und gesunde Mensch, der starke Mensch.
    Da sie die Geschäfe voll hübscher Gegenstände, die Frauen, die flink dahingingen, die Kellner in den Cafés, die Medizinstudenten, die Polizisten, die Notariatsgehilfen mieden, blieb Rimbaud oder Proust, aus dem Leben herausgerissen, aus dem Leben hinausgeworfen und der Stütze beraubt, nichts übrig, als ziellos in den Straßen herumzuirren oder mit auf die Brust gefallenem Kopf in irgendeiner staubigen Parkanlage zu schlummern.

XIII

    Man sah sie die Schaufenster entlang gehen, den ganz geraden Oberkörper leicht nach vorne geneigt, die steifen Beine etwas gespreizt, und ihre kleinen, über den überhohen Absätzen gewölbten Füße stießen hart auf das Trottoir.
    Ihre Tasche unter dem Arm, in Handschuhen, ihren kleinen, vorschrifsmäßigen »Bibi« genau wie es gehört schief auf dem Kopf, die langen starren Wimpern in den gewölbten Lidern stekkend, mit hartem Blick, so liefen sie die Geschäfe entlang, blieben plötzlich stehen, stöberten mit ihrem gierigen Kennerauge.
    Sehr tapfer, denn sie konnten gut widerstehen, hatten sie seit einigen Tagen die Geschäfe abgelaufen, auf der Suche nach »einem kleinen SportKostüm« aus grobem, gemustertem Tweed, »so ein kleines Muster, ich sehe es vor mir, mit kleinen grauen und blauen Karos … Ach, Sie haben das nicht? wo könnte ich es finden?« – und sie begannen mit der Suche von vorne.
    Das kleine blaue Kostüm … das kleine graue Kostüm … Ihre angestrengten Augen suchten und jagten nach ihm … Mit der Zeit erfaßte es sie entschiedener, nahm sie unabweislich ein, wurde unentbehrlich, wurde zum Ziel an sich, und sie wußten nicht mehr warum, aber um jeden Preis mußten sie es bekommen.
    Sie gingen, sie liefen,

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