Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tropismen

Tropismen

Titel: Tropismen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Sarraute
Vom Netzwerk:
Geschichten, von ihren Fehlern, von ihren Geheimnissen, von allem, was man besser verbergen sollte – aber da es sie interessieren konnte, aber da es sie befriedigen konnte, durfe man nicht zögern, man mußte es ihr sagen, ihr alles sagen, sich von allem entblößen, ihr alles geben, solange sie da sein würde, in einen Winkel des Fauteuils gekauert, ganz sanf, ganz geistlos, sich windend.

X

    Am Nachmittag gingen sie zusammen aus, führten das Leben der Frauen. Oh! dieses Leben war außerordentlich! Sie gingen zu »Tees«, sie aßen Kuchen, die sie gewissenhaf aussuchten, mit kleiner Feinschmeckermiene: Eclairs mit Schokoladeüberguß, Rosinenkuchen und Torten.
    Ringsherum war es ein piepender, warmer und lustig beleuchteter und verzierter Taubenschlag. Da blieben sie, saßen dicht gedrängt um ihre kleinen Tische und sprachen.
    Ein Strom von Erregung und Lebhafigkeit umgab sie, eine leichte Unruhe voll Freude, die Erinnerung an eine schwierige Wahl, über die man noch ein wenig zweifelte (wird es zum blauen und grauen Komplet passen? aber wenn trotzdem, dann wird es bewundernswürdig sein), die Aussicht auf Verwandlung, diese plötzliche Steigerung ihrer Persönlichkeit, diesen Glanz. Sie, sie, sie, sie, immer sie, gefräßig, piepend und heikel.
    Ihre Gesichter wurden von einer Art inneren Spannung wie steif, ihre gleichgültigen Augen glitten über den Anschein, über die Maske der Dinge, wägten sie ab, nur einen Augenblick (war das hübsch oder häßlich?), ließen sie dann fallen. Und die Schminke verlieh ihnen einen harten Glanz, eine Frische ohne Leben.
    Sie gingen zu Tees. Da blieben sie stundenlang sitzen, ganze Nachmittage vergingen dabei. Sie sprachen: »Jämmerliche Szenen gibt es zwischen ihnen, Streitigkeiten wegen nichts. Ich muß sagen, bei dem Ganzen beklage ich trotzdem ihn. Wieviel? Doch wenigstens zwei Millionen, Und nichts als die Erbschaf der Tante Josephine … Nein … wie denn, meinen Sie? Er wird sie nicht heiraten. Er braucht eine Frau für daheim, er macht es sich selbst nicht klar. Aber nein, ich sage es Ihnen. Eine Frau für daheim, das braucht er … Für daheim … Für daheim …« Man hatte es ihnen immer gesagt. Das, sie hatten es wohl immer sagen gehört, sie wußten es: die Gefühle, die Liebe, das Leben, das war ihr Gebiet. Es gehörte ihnen.
    Und sie sprachen, sprachen ununterbrochen, wiederholten dieselben Dinge, drehten sie um, drehten sie noch einmal um, nach der einen Seite, dann nach der anderen, kneteten sie, kneteten, drehten diesen undankbaren und armseligen Stoff, den sie aus ihrem Leben gewonnen hatten (was sie »das Leben« nannten, ihr Gebiet), ununterbrochen zwischen ihren Fingern, kneteten ihn, zogen ihn aus und rollten ihn, bis er nur mehr eine kleine Masse bildete zwischen ihren Fingern, ein kleines graues Kügelchen.

XI

    Sie hatte das Geheimnis begriffen. Sie hatte gewittert, wo sich verbarg, was für alle der echte Schatz sein mußte. Sie kannte die »Stufenleiter der Werte«.
    Gespräche über die Hutformen und die Stoffe von Remond, nichts für sie. Sie verachtete tief das Schuhwerk mit eckigen Spitzen.
    Wie eine Kellerassel war sie hinterlistig auf sie zugekrochen und hatte tückischerweise »das Wahre vom Wahren« entdeckt, wie eine Katze vor dem ausfindig gemachten Rahmtopf, die sich leckt und die Augen schließt. Jetzt wußte sie es. Sie werde sich dort halten. Man werde sie nicht mehr vertreiben. Sie horchte, sie saugte ein, gefräßig, genießerisch und gierig. Es gehörte ihr, und nichts durfe ihr davon entgehen: die Gemäldegalerien, alle Bücher die erschienen … Sie kannte das alles. Sie hatte mit den »Annalen« begonnen, im Augenblick schob sie auf Gide zu, bald wird sie stechenden und lüsternen Auges in der »Union für die Wahrheit« Notizen machen. Auf alldem erging sie sich, spürte überall herum, lüfete alles mit ihren Fingern, die eckige Nägel hatten; kaum sprach man irgendwo nur vage davon, entbrannte ihr Blick, reckte sie gierig den Hals.
    Sie fühlten sich davon unsagbar abgestoßen. Schnell, bevor sie es wittert, es vor ihr verstecken, es fortschaffen, ihrer Berührung, die es entwertet, entziehen … Aber sie vereitelte ihre Pläne, denn sie kannte alles. Man konnte die Kathedrale von Chartres nicht vor ihr verstecken. Sie wußte alles über sie. Sie hatte gelesen, was Peguy über sie dachte.
    In den geheimsten Winkeln, in den vollendet getarn ten Schätzen wühlte sie mit ihren süchtigen Fingern. Ganz »Geistigkeit«.

Weitere Kostenlose Bücher