... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
denken kann als ans Essen.
Von den seelisch aufreibenden inneren Konflikten und Willenskämpfen, die im Hungernden vor sich gehen, macht sich derjenige schwer einen Begriff, der so etwas nicht aus eigenem Erleben kennt. Für ihn ist es schwer begreiflich, was das heißt: im Graben stehen, pickeln und dabei immer horchen, ob die Sirene schon halb zehn bzw. zehn Uhr anzeigt; immer warten, ob die halbstündige Mittagspause heranrückt – mit der Ausgabe der »Brotzeit« (solange noch Brotzeit ausgegeben wurde); den Vorarbeiter, wenn er kein unangenehmer Mensch ist, oder vorübergehende Zivilisten immer wieder fragen, wie spät es sei, und in der Rocktasche ein kleines Stück Brot mit den vom Frost klammen, unbehandschuhten Fingern zärtlich abtasten, ein Stückchen vom Brot abbrechen, zum Munde führen, um dann, in letzter Willensanspannung, es wieder in die Tasche wandern zu lassen: man hatte sich nämlich an diesem Morgen geschworen, bis Mittag durchzuhalten.
Endlose Debatten über die Vernünftigkeit bzw. Unvernünftigkeit gewisser Prinzipien, die in der letzten Zeit einmal täglich verabfolgte geringe Brotration einzuteilen, konnten uns beschäftigen. Zwei große Parteien gab es da. Die einen waren dafür, was man bekam, sofort zur Gänze aufzuessen; dies hatte den doppelten Vorteil, daß man wenigstens einmal im Tag den ärgsten Hunger für ganz kurze Zeit betäuben konnte und zweitens vor Diebstählen und sonstigem Verlust der Ration bewahrt war. Die Gegenpartei hatte wieder andere Argumente zur Verfügung. Was mich anlangt, lief ich schließlich zu dieser Gegenpartei über. Ich hatte dazu meinen persönlichen Grund: Der furchtbarste Augenblick innerhalb der alltäglichen 24 Stunden des Lagerlebens war das Erwachen. Wenn uns die drei schrillen Pfiffe, die das »Aufstehen!« kommandierten, noch zu halb nächtlicher Stunde aus dem Schlaf der Erschöpfung und der Sehnsuchtsträume erbarmungslos herausrissen, wenn es jetzt galt, den Kampf mit den nassen Schuhen aufzunehmen, in die die wunden und vom Hungerödem geschwellten Füße kaum hineinzubringen waren, wenn so in den ersten Minuten des Wachlebens das Gejammer und Geschimpfe über die Tücke von Objekten, wie Schuhriemen ersetzenden, dann aber brechenden Drähten usw., anhob, wenn man ansonsten tapfere Kameraden wie Kinder weinen hörte, weil sie schließlich, die durch Feuchtigkeit zu eng gewordenen Schuhe in der Hand tragend, bloßfüßig auf den verschneiten Appellplatz hinauslaufen mußten – in diesen gräßlichen Minuten gab es für mich einen schwachen Trost: ein vom Abend aufgespartes Stückchen Brot aus der Tasche ziehen und – ganz hingegeben diesem Genuß – es verzehren.
Sexualität
Führt die Unterernährung dazu, daß die primitive Triebhaftigkeit, die den Lagerhäftling im zweiten Stadium seiner inneren Anpassung an das Lagerleben ergreift, den Nahrungstrieb in den Bewußtseinsvordergrund rückt, so erklärt wahrscheinlich hauptsächlich diese Unterernährung auch die Tatsache, daß der Sexualtrieb im allgemeinen schweigt. Abgesehen von der anfänglichen Schockwirkung ist es wohl nur so zu verstehen, was dem Psychologen in diesen Massenquartieren von Männern auffällt: daß, im Gegensatz zum Massenleben in andern Ubikationen (Kasernen und dergleichen), hier nicht »geschweinigelt« wird. Und auch in den Träumen der Häftlinge tauchen sexuelle Inhalte fast niemals auf, während die im Sinne der Psychoanalyse »zielgehemmten Strebungen«, also die ganze Liebessehnsucht des Häftlings und anderweitige Regungen, im Traum sehr wohl zum Vorschein kommen.
Unsentimentalität
Bei der überwiegenden Mehrzahl des durchschnittlichen Lagerhäftlings wirkt sich die primitive Triebhaftigkeit, das Sichkonzentrieren-Müssen auf die ständig in Frage gestellte simple Lebenserhaltung, in einer radikalen Entwertung alles dessen aus, was diesem exklusiven Interesse nicht dient. Daraus erklärt sich die absolute Unsentimentalität, mit der der Häftling die Dinge gewöhnlich beurteilt. Drastisch kam mir als damals verhältnismäßig Unerfahrenem diese Einstellung zu Bewußtsein, als ich von Auschwitz nach Bayern in ein Dachauer Filiallager transportiert wurde. Der Zug, der uns – ungefähr 2000 Häftlinge – dorthin brachte, fuhr über Wien. Wir passierten einen Wiener Bahnhof nach Mitternacht. Die weitere Strecke führte uns an der Gasse vorbei, in einem deren Häuser ich zur Welt gekommen bin und Jahrzehnte meines Lebens, nämlich bis zum Tage
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