... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
wieder hin, die Rucksäcke am Rücken behaltend, und warten mit den letzten paar Häftlingen auf den letzten Wagen. Aber wir müssen lange warten. So legen wir uns auf die leergewordenen Pritschen der Revierbaracke, total abgespannt vom »Nervenkrieg« der letzten Stunden und Tage, von den einander ablösenden Hoffnungen und Enttäuschungen (vom himmelhoch Jauchzen und dann wieder zu Tode Betrübtsein). Wir sind »reisefertig«, wir bleiben in Kleidern und Schuhen und schlafen ein. Da weckt uns der Lärm von Gewehr- und Kanonenschüssen, der Lichtschein von Signalraketen, das Pfeifen von Kugeln, die auch die Barackenwand durchschlagen; der Oberarzt stürmt herein und kommandiert uns, auf dem Fußboden Deckung zu suchen, und vom Stockbett über mir springt ein Kamerad mit den Schuhen auf meinen Bauch: jetzt bin ich vollends wach. Bald überblicken wir die Situation: die Front ist da! Die Schießerei läßt nach, hört auf, der Morgen dämmert – und draußen, auf dem Mast neben dem Lagertor, weht eine weiße Fahne. Aber erst Wochen später haben wir, das kleine letzte Häuflein dieses Lagers, erfahren, daß auch noch in den letzten Stunden das »Schicksal« wieder einmal mit uns gespielt hat -, erfahren, wie fragwürdig alles menschliche Entscheiden ist, und zwar gerade dort, wo es um Leben oder Tod geht; wieder mußten wir an das Märchen vom Tod in Teheran denken, im Hinblick auf die Kameraden, die in jener Nacht auf Lastautos den Weg in die Freiheit zu fahren gewähnt hatten; denn Wochen später lagen Photos vor mir, aufgenommen in einem kleinen Lager unweit dem unsrigen, wohin meine Patienten gebracht worden waren und wo man sie in die Baracken gesperrt hatte, die man dann anzündete. Auf den Photos kann man die halbverkohlten Leichen sehen.
Gereiztheit
Soviel zur Kennzeichnung der Apathie, der Abstumpfung des Gemüts, die sich des Häftlings während der Zeit seines eigentlichen Lageraufenthalts bemächtigt, sein seelisches Leben im allgemeinen auf ein primitiveres Niveau herabsinken läßt, ihn zum willenlosen Objekt des Schicksals oder aber der Willkür der Lagerwache macht und schließlich eben dazu führt, daß er davor eine Scheu empfindet, selber sein Schicksal in die Hand zu nehmen, also Entscheidungen zu treffen. Die Apathie hat nun auch andere Ursachen, ist also nicht nur im besprochenen Sinne eines Selbstschutzmechanismus der Seele zu verstehen. Sie hat auch körperliche Ursachen. Ebenso wie die Gereiztheit, die – neben der Apathie – eines der hervorstechendsten Merkmale der Häftlingspsyche darstellt. Unter der Reihe der körperlich verursachenden Momente stehen nun an erster Stelle: der Hunger und der Schlafmangel. Schon im normalen Leben machen beide, wie jeder weiß, den Menschen apathisch und gereizt. Im Lager ist der Schlafmangel zum Teil darauf zurückzuführen, daß – entsprechend der unvorstellbaren Belegungsdichte in den Baracken und dem denkbar größten Mangel an Hygiene – eine arge Ungezieferplage herrscht.
Zu der so entstehenden Apathie und Gereiztheit tritt aber noch ein weiteres ursächliches Moment hinzu: der Fortfall jener Zivilisationsgifte, welche normalerweise eben Apathie und Gereiztheit zu mildern die Aufgabe haben -, der Fortfall von Nikotin und Coffein! So wird die Apathie und Gereiztheit nur noch gesteigert. Zu diesen Ursachen vom Körperlichen her treten dann aber auch noch die seelischen Grundlagen dieser eigenartigen Gemütsverfassung des Lagerhäftlings hinzu, und zwar in Form gewisser »Komplexe«. Die Majorität der Häftlinge ist begreiflicherweise von einer Art Minderwertigkeitsgefühl geplagt. Jeder von uns war einmal »Jemand« oder glaubte zumindest, jemand gewesen zu sein. Jetzt aber, hier, wird er buchstäblich so behandelt, als ob er ein Niemand wäre. (Daß ein in wesentlicheren Bereichen, im Geistigen verankertes Selbstbewußtsein durch die Situation im Lager nicht zu erschüttern ist, ist klar; aber wie viele Menschen, und auch wie viele Häftlinge, haben schon ein derartiges gefestigtes Selbstbewußtsein?) Ohne viel darüber nachzudenken, ohne daß es ihm weiter zu Bewußtsein käme, fühlt sich der durchschnittliche Lagerhäftling naturgemäß vollständig deklassiert. Dieses Erlebnis wird aber eigentlich aktuell erst durch die Kontrastwirkung, die sich aus der eigenartigen soziologischen Struktur des Lagerlebens ergibt. Ich denke nämlich hierbei an jene Minorität von Häftlingen, die sozusagen als Prominente galten, an die Capos und Köche,
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