... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
wiedergefunden? Und erinnerst du dich noch daran – wie ich dich damals, trotz deines kindlichen Weinens, gezwungen habe: Wort für Wort mein mündliches Testament – auswendig zu lernen?
Am nächsten Morgen ging ich mit dem Transport ab. Diesmal war es keine Finte und kein Trick. Dieser Transport ging auch nicht ins Gas, sondern wirklich in ein Schonungslager. Und diejenigen, die mich so bemitleidet hatten -, sie blieben im alten Lager, in dem dann der Hunger noch viel ärger wütete als in unserem neuen Lager. Sie hatten geglaubt, sich zu retten, aber sie stürzten sich ins Verderben: Monate später, schon nach der Befreiung, traf ich jenen Kameraden aus dem alten Lager wieder, der – als »Lagerpolizist« – selber jenes Stück Fleisch aus einem Kochtopf heraus konfiszierte, das in jenen Tagen in jenem Lager auf einem Leichenhaufen gefehlt hatte... Denn in jenem Lager, aus dessen späterer Hölle ich noch rechtzeitig entkommen war, war Kannibalismus ausgebrochen.
Wem fiele da nicht die Geschichte vom Tod in Teheran ein? Ein reicher und mächtiger Perser lustwandelte einmal in Begleitung seines Dieners durch den Garten seines Hauses. Da jammert der Diener, er habe soeben den Tod gesehen und der habe ihm gedroht; flehentlich bittet der Diener seinen Herrn, ihm das schnellste Roß zu geben, damit er sich eilends auf den Weg machen und nach Teheran flüchten könne, wo er noch am Abend des gleichen Tages ankommen wolle. Der Herr gibt ihm das Roß, der Diener galoppiert davon. Auf dem Rückweg ins Haus aber begegnet der Herr selber dem Tod. Da stellt er ihn zur Rede: »Warum hast du meinen Diener so erschreckt, warum hast du ihm gedroht?« Da sagt der Tod: »Ich habe ihm doch nicht gedroht! Ich wollte ihn auch gar nicht erschrecken. Ich habe wohl nur erstaunt getan, weil ich überrascht war, ihn noch hier zu sehen, wo ich ihn doch heute abends in Teheran treffen soll!«
Fluchtplan
Das beherrschende Gefühl, bloßer Spielball zu sein, und der Grundsatz, womöglich nicht selber Schicksal zu spielen, vielmehr dem Schicksal seinen Lauf zu lassen, all dies und noch dazu die tiefgehende Apathie, die sich des Menschen im Lager bemächtigt, machen es verständlich, wenn er jeder Initiative auszuweichen bestrebt ist und sich vor Entscheidungen fürchtet. Im Lagerleben gibt es Entscheidungen, die plötzlich, in Augenblicken getroffen werden müssen und oft Entscheidungen über Sein oder Nichtsein darstellen. Am liebsten ist es da dem Häftling, wenn das Schicksal ihm den Zwang zur Entscheidung eben abnimmt. Diese Flucht vor der Entscheidung läßt sich am deutlichsten beobachten, wenn der Häftling – vor die Entscheidung für oder gegen eine Flucht gestellt ist: in den Minuten – und nur um Minuten kann es sich jeweils handeln -, in denen er eine solche Entscheidung treffen muß, erlebt er innerlich höllische Qualen: soll er einen Fluchtversuch unternehmen oder soll er es nicht? Soll er das Risiko auf sich nehmen oder nicht? Ich selbst erlebte dieses Fegefeuer voll innerer Spannung auch: als unmittelbar vor dem Herannahen der Front eine Gelegenheit zur Flucht sich ergab. Ein Kamerad, der in Baracken außerhalb des Lagers ärztlichen Dienst versehen mußte, war für die Flucht. Er wollte unbedingt mit mir fliehen. Unter Vorspiegelung eines Konsiliums bei einem Nichthäftling, zu dem er mich als Facharzt dringend zu benötigen vorgab, schwindelten wir uns aus dem Lager hinaus. Draußen wollte uns ein geheimes Mitglied einer ausländischen Widerstandsbewegung mit Uniformen und falschen Papieren versehen. Im letzten Moment ergaben sich jedoch technische Schwierigkeiten und wir mußten nochmals ins Lager zurück. Diese Gelegenheit benützten wir, um uns noch mit ein paar verfaulten Kartoffeln als Wegzehrung auszustatten und vor allem je einen Rucksack zu verschaffen. Zu diesem Zweck drangen wir in eine leerstehende Baracke des Frauenlagers ein, die von ihren früheren Insassen – das Frauenlager war vor kurzem geräumt und die Frauen auf einen Transport in ein anderes Lager geschickt worden – verlassen worden war. Eine unvorstellbare Unordnung herrschte in dieser Baracke. Alles lag durcheinander und man konnte deutlich sehen, daß viele Frauen geflüchtet waren; da lagen Fetzen und Stroh, verdorbene Speisereste und zerbrochenes Geschirr. Aber auch die scheinbar noch brauchbaren Menageschüsseln – sonst im Lager ein Gegenstand von hohem Wert – wollten wir doch nicht nehmen. Wußten wir doch nur allzu gut, daß
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