... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
und ich, zu flüchten.
Wir haben den Auftrag, die drei Leichen, die es an diesem Tage gab, außerhalb des Stacheldrahts zu begraben. Außer uns beiden ist nämlich niemand mehr im Lager, der hierzu noch die Kräfte hätte, fast alle liegen hochfiebernd und delirierend in den wenigen noch belegten Baracken. Da ist unser Entschluß gefaßt: mit der ersten Leiche schmuggeln wir seinen Rucksack hinaus, in dem alten Waschtrog, der uns als Sarg- und Bahrenersatz dient, mit der zweiten Leiche meinen Rucksack, und mit der dritten Leiche hauen wir dann selber ab. Bis zur dritten Leiche können wir unser Programm auch in die Tat umsetzen. Bei der dritten Leiche aber muß ich warten – mein Kollege hat gesagt, er versuche noch rasch irgendwo ein Stück Brot zu erwischen, damit wir für die nächsten Tage im Wald etwas zu essen haben. Ich warte; es vergehen Minuten, ich werde immer ungeduldiger – er kommt noch immer nicht zurück. So schön habe ich mir schon ausgemalt, wie die Freiheit schmecken wird, nun, das erstemal nach drei Jahren, wenn wir jetzt der Front entgegenlaufen werden. Denn erst später haben wir erfahren, wie gefährlich dieses Entgegenlaufen ausgegangen wäre. So weit kam es aber nicht. Denn in dem Augenblick, da mein Kollege endlich herbeigestürmt kommt, im gleichen Augenblick – öffnet sich weit das Lagertor, und ein prächtiges aluminiumfarbenes Auto mit großen roten Kreuzen rollt langsam auf den Appellplatz: der Delegierte vom Internationalen Roten Kreuz in Genf ist erschienen und nimmt das Lager und dessen letzte Insassen unter seinen Schutz. Wer denkt da noch an Flucht? Kisten mit Medikamenten werden aus dem Wageninnern ausgeladen, Zigaretten werden verteilt, wir werden photographiert und überall herrscht Jubel. Jetzt brauchen wir nicht mehr das Risiko auf uns zu nehmen und in die kämpfenden Fronten hineinzurennen.
Der Delegierte mietet sich in einem Bauernhaus nahe dem Lager ein, um auch nachts für alle Fälle bereit zu sein. Im ersten Freudentaumel haben wir die dritte Leiche vergessen. Jetzt gehen wir und tragen sie hinaus, um auch sie in das kleine Schachtgrab kollern zu lassen, das wir beide ausgehoben haben. Der Wachtposten, der uns begleitet und beaufsichtigt, ist plötzlich ganz weich geworden. Er beginnt zu ahnen, daß sich das Blatt jetzt wenden mag, und er sucht mit uns Kontakt zu gewinnen. Jedenfalls – er beteiligt sich an dem kurzen Totengebet, das wir nun sagen, da wir darangehen, die ersten Schollen auf die drei Leichen hinabfallen zu lassen. Nach unserer inneren Anspannung und der Aufgeregtheit der letzten Tage und Stunden dieses Endspurts in unserem Wettlauf mit dem Tode müssen die Worte, mit denen wir da in unserem Gebet um Frieden flehten, so inbrünstig gewesen sein, wie sie nur je aus Menschenmund geklungen haben mögen...
So vergeht dieser Tag, der letzte unseres Lagers, in vorausgeahnter und innerlich vorweggenommener Freiheit. Aber noch haben wir die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn trotz der Versicherung des Delegierten vom Roten Kreuz, auf Grund eines Abkommens dürfe das Lager nicht weiter evakuiert werden, ja trotz seiner Anwesenheit im Marktflecken nahe dem Lager fahren nachts Lastautos vor mit SS, die den Befehl überbringt, das Lager sofort zu räumen; die letzten verbliebenen Häftlinge sollen in ein Zentrallager abtransportiert werden, von wo sie innerhalb achtundvierzig Stunden in die Schweiz gebracht und gegen Kriegsgefangene ausgetauscht würden. Die Mannschaft der Lastautos ist als SS nicht wiederzuerkennen, so freundlich sind diese Leute, während sie uns zureden, ohne ängstliche Bedenken einzusteigen und uns auf die große Chance, die wir jetzt hätten, doch zu freuen. Schon drängen sich diejenigen, die noch kräftig genug sind, um zu drängen, auf die Lastautos; mühsam werden die Schwerkranken und ganz Geschwächten auf die Plattform hinauf verladen. Mein Kollege und ich, unsere Rucksäcke nun schon nicht mehr verbergend, wir stehen parat, sobald für den vorletzten Wagen dreizehn Personen abgezählt werden. Der Oberarzt teilt sie ein – zu fünfzehn stehen wir da; er aber zählt gerade an uns beiden vorbei. Die dreizehn werden aufs Auto gebracht, wir beide Zurückbleibende sind überrascht, enttäuscht, erbost, und während das vorletzte Auto abrollt, machen wir dem Oberarzt Vorwürfe. Er entschuldigt sich mit seiner Übermüdung und Zerstreutheit: er habe irrtümlich geglaubt, wir dächten noch immer an Flucht. Ungeduldig setzen wir uns
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