... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
der Gegenwart, der umgebenden Wirklichkeit, birgt aber eine gewisse Gefahr in sich. Werden doch die Ansatzmöglichkeiten einer Wirklichkeitsgestaltung – die es ja auch noch im Lagerleben irgendwie gibt, wie so manches heroische Beispiel beweist – dann leicht übersehen. Die totale Entwertung der Realität, wie sie der provisorischen Existenzweise des Lagerhäftlings entspricht, verführt einen vollends dazu, sich gehen zu lassen, sich fallen zu lassen – da ja ohnedies »alles zwecklos« sei. Solche Menschen vergessen, daß oft gerade eine außergewöhnlich schwierige äußere Situation dem Menschen Gelegenheit gibt, innerlich über sich selbst hinauszuwachsen. Statt gerade die äußeren Schwierigkeiten des Lagerlebens zu einer inneren Bewährungsprobe zu gestalten, nehmen sie das gegenwärtige Dasein nicht ernst, sie entwerten es zu etwas Uneigentlichem, vor dem man sich am besten verschließt, indem man sich nur mehr mit dem vergangenen Leben abgibt. Das Leben solcher Menschen versandet dann, statt – wozu grundsätzlich die Möglichkeit gegeben wäre – gerade unter diesen denkbar größten Schwierigkeiten der Haftzeit zu einem Höhepunkt sich aufzuschwingen. Natürlich sind nur wenige Menschen hierzu fähig; ihnen aber ist es gelungen, noch im äußeren Scheitern und auch noch im Sterben zu einer menschlichen Größe zu gelangen, die ihnen früher, in ihrer Alltagsexistenz, vielleicht niemals beschieden gewesen wäre; für die andern jedoch, für uns Mittelmäßige und für uns Laue, galt das Mahnwort von Bismarck, der einmal sagte: Im Leben geht es einem so wie beim Zahnarzt: immer glaubt man, das Eigentliche kommt erst, und inzwischen ist es schon vorbei. Variierend könnte man sagen: die meisten Menschen im Konzentrationslager glaubten, die wahren Möglichkeiten der Verwirklichung seien nun dahin – und in Wirklichkeit bestanden sie eben darin, was einer aus diesem Leben im Lager machte: ein Vegetieren, so wie die Tausende von Häftlingen, oder aber, so wie die Seltenen und Wenigen, ein inneres Siegen.
Spinoza als Erzieher
So wird es klar, daß jeder Versuch, den psychopathologischen Erscheinungen, die das Lagerleben beim Häftling herbeiführt, im Sinne einer Psychotherapie oder gar einer Psychohygiene entgegenzuarbeiten, darauf angewiesen ist, den Menschen im Konzentrationslager und trotz dem Konzentrationslager dadurch innerlich aufzurichten, daß man sich bemüht, ihn wieder auf die Zukunft hin, auf ein Ziel in der Zukunft auszurichten. Instinktiv hat auch von selbst der eine oder andere Lagerinsasse diesen Versuch unternommen. Die meisten hatten etwas, das sie aufrecht hielt, und meistens handelte es sich hierbei um ein Stück Zukunft. Dem Menschen ist es nun einmal eigen, nur unter dem Gesichtswinkel einer Zukunft, also irgendwie sub specie aeternitatis, eigentlich existieren zu können. Zu diesem Gesichtspunkt der Zukunft nimmt er daher in schwierigsten Augenblicken seines Daseins auch immer wieder Zuflucht. Oft mag dies in Form eines Tricks geschehen. Was mich selbst anlangt, erinnere ich mich an folgendes Erlebnis: Fast weinend vor Schmerzen in den wunden Füßen, die in offenen Schuhen staken, im grimmigen Frost und eisigen Gegenwind, humpelte ich in langer Kolonne die paar Kilometer vom Lager zum Arbeitsplatz. Mein Geist beschäftigte sich unablässig mit den tausendfältigen kleinen Problemen unseres armseligen Lagerlebens: Was wird es heute Abend zu essen geben? Soll ich die Scheibe Wurst, die es vielleicht als Zubuße geben wird, nicht lieber für ein Stück Brot eintauschen? Soll ich die letzte Zigarette, die mir von der »Prämie« vor vierzehn Tagen verblieben ist, gegen eine Schüssel Suppe einhandeln? Wie komme ich zu einem Stück Draht, um den gebrochenen zu ersetzen, der mir als Schuhriemenersatz dient? Werde ich jetzt an der Baustelle rechtzeitig den Anschluß an die gewohnte« Arbeitsgruppe finden oder aber in eine andere, zu irgendeinem wüsten und prügelnden Vorarbeiter verschlagen werden? Und was könnte ich unternehmen, um mich mit einem bestimmten Capo gut zu stellen, der mir zur Verwirklichung eines unwahrscheinlichen Glücks verhelfen könnte, nämlich – als Lagerarbeiter im Lager selbst verwendet zu werden und nicht mehr diesen furchtbaren täglichen Marsch mitmachen zu müssen? Schon ekelt mich dieser grausame Zwang an, unter dem all mein Denken sich täglich und stündlich nur mit solchen Fragen abplagen muß. Da gebrauche ich einen Trick: plötzlich sehe ich
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