... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
bringt das Schicksal des Menschen mit sich, das für jeden ein einmaliges und einzigartiges ist. Kein Mensch und kein Schicksal läßt sich mit einem andern vergleichen; keine Situation wiederholt sich. Und in jeder Situation ist der Mensch zu anderem Verhalten aufgerufen. Bald verlangt seine konkrete Situation von ihm, daß er handle, sein Schicksal also tätig zu gestalten versuche, bald wieder, daß er von einer Gelegenheit Gebrauch mache, erlebend (etwa genießend) Wertmöglichkeiten zu verwirklichen, bald wieder, daß er das Schicksal eben schlicht auf sich nehme. Immer aber ist jede Situation ausgezeichnet durch jene Einmaligkeit und Einzigartigkeit, die jeweils nur eine, eine einzige, eben die richtige »Antwort« auf die Frage zuläßt, die in der konkreten Situation enthalten ist.
Sofern nun das konkrete Schicksal dem Menschen ein Leid auferlegt, wird er auch in diesem Leid eine Aufgabe, und ebenfalls eine ganz einmalige Aufgabe, sehen müssen. Der Mensch muß sich auch dem Leid gegenüber zu dem Bewußtsein durchringen, daß er mit diesem leidvollen Schicksal sozusagen im ganzen Kosmos einmalig und einzigartig dasteht. Niemand kann es ihm abnehmen, niemand kann an seiner Stelle dieses Leid durchleiden. Darin aber, wie er selbst, der von diesem Schicksal Betroffene, dieses Leid trägt, darin liegt auch die einmalige Möglichkeit zu einer einzigartigen Leistung.
Für uns im Konzentrationslager war dies alles nichts weniger als lebensfremde Spekulation. Für uns waren solche Gedanken das einzige, was uns noch helfen konnte! Denn diese Gedanken waren es, die uns auch dann nicht verzweifeln ließen, wenn wir keine Chance mehr sahen, mit dem Leben davonzukommen. Denn uns ging es längst nicht mehr um die Frage nach dem Sinn des Lebens, wie sie oft in Naivität gestellt wird und nichts weiter meint als die Verwirklichung irgendeines Zieles dadurch, daß wir schaffend etwas hervorbringen. Uns ging es um den Sinn des Lebens als jener Totalität, die auch noch den Tod mit einbegreift und so nicht nur den Sinn von »Leben« gewährleistet, sondern auch den Sinn von Leiden und Sterben: um diesen Sinn haben wir gerungen!
Leiden als Leistung
War uns der Sinn des Leidens einmal offenbar geworden, dann lehnten wir es auch ab, die Leidfülle des Lagerlebens zu verharmlosen oder zu verniedlichen, indem wir sie »verdrängten« und uns über sie hinwegtäuschten – etwa durch billigen oder verkrampften Optimismus. Für uns war auch das Leiden eine Aufgabe geworden, deren Sinnhaftigkeit wir uns nicht mehr verschließen wollten. Für uns hatte das Leiden seinen Leistungscharakter enthüllt – jenen Leistungscharakter, der einen Rilke bewogen hat, auszurufen: »Wieviel ist aufzuleiden!« Wie man von »aufarbeiten« spricht, so spricht hier Rilke von »aufleiden«...
Für uns war wohl »viel aufzuleiden«. Darum war es aber auch notwendig, den Dingen, der Leidfülle, gleichsam ins Gesicht zu sehen; auf die Gefahr hin, daß einer da »weich« wurde, daß er vielleicht einmal insgeheim seinen Tränen freien Lauf ließ. Er hätte sich dieser Tränen nicht zu schämen gebraucht. Sie bürgten dafür, daß er den größten Mut hatte: den Mut zum Leiden! Davon wußten aber die wenigsten, und nur verschämt gestanden sie gelegentlich, daß sie wieder einmal sich ausgeweint hatten -, so wie jener Kamerad, der einmal auf meine Frage, wie er denn seine (Hunger-)Ödeme zum Schwinden gebracht, eingestand: »Ich habe sie mir herausgeweint...«
Etwas wartet
Die keimhaften Ansätze zu einer Psychotherapie bzw. Psychohygiene im Konzentrationslager waren nun, wenn sie ermöglicht wurden, entweder individuelle oder kollektive. Was die individuellen psychotherapeutischen Versuche anlangt, stellten sie oftmals eine dringliche, ja eine lebensrettende »Behandlung« dar. Galten doch solche Bemühungen vor allem der Verhütung von Selbstmorden. War einmal ein Selbstmordversuch unternommen, so bestand ein strengstens gehandhabtes Verbot, den betreffenden Menschen zu retten. So war etwa das »Abschneiden« erhängt vorgefundener Kameraden offiziell untersagt. Um so wichtiger mußte es natürlich erscheinen, verhütende Maßnahmen zu versuchen. Ich erinnere mich nun zweier »Fälle«, die nicht nur als Beispiel dafür dienen sollen, wie die oben dargestellten Gedankengänge praktisch verwertbar waren, sondern auch eine bemerkenswerte Parallelität aufweisen. Es handelte sich um zwei Männer, die in ihren Gesprächen Selbstmordabsichten
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