... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
mich selber in einem hell erleuchteten, schönen und warmen, großen Vortragssaal am Rednerpult stehen, vor mir ein interessiert lauschendes Publikum in gemütlichen Polstersitzen – und ich spreche; spreche und halte einen Vortrag über die Psychologie des Konzentrationslagers! Und all das, was mich so quält und bedrückt, all das wird objektiviert und von einer höheren Warte der Wissenschaftlichkeit aus gesehen und geschildert... Und mit diesem Trick gelingt es mir, mich irgendwie über die Situation, über die Gegenwart und über ihr Leid zu stellen, und sie so zu schauen, als ob sie schon Vergangenheit darstellte und ich selbst, mitsamt all meinem Leiden, Objekt einer interessanten psychologischwissenschaftlichen Untersuchung wäre, die ich selber vornehme. Wie sagt doch Spinoza in seiner »Ethik«? »Affectus, qui passio est, desinit esse passio simulatque eius claram et distinctam formamus ideam.« (Eine Gemütsregung, die ein Leiden ist, hört auf, ein Leiden zu sein, sobald wir uns von ihr eine klare und deutliche Vorstellung bilden. – Ethik, 5. Teil, »Über die Macht des Geistes oder die menschliche Freiheit«, Satz III.)
Wer an eine Zukunft, wer an seine Zukunft nicht mehr zu glauben vermag, ist hingegen im Lager verloren. Mit der Zukunft verliert er den geistigen Halt, läßt sich innerlich fallen und verfällt sowohl körperlich als auch seelisch. Dies geschieht zumeist sogar ziemlich plötzlich, in Form einer Art Krise, deren Erscheinungsweisen dem halbwegs erfahrenen Lagerinsassen geläufig sind. Jeder von uns fürchtete – nicht für sich, denn das wäre ja dann schon gegenstandslos gewesen, vielmehr für seine Freunde – den Zeitpunkt, an dem sich erstmalig diese Krise äußerte. Gewöhnlich sah das so aus, daß der betreffende Häftling eines Tages in der Baracke liegen blieb und nicht dazu zu bewegen war, sich anzukleiden, in den Waschraum zu gehen und auf den Appellplatz zu kommen. Nichts wirkt dann mehr, nichts schreckt ihn noch – keine Bitten, keine Drohung, keine Schläge – alles vergeblich: er bleibt einfach liegen, rührt sich kaum, und wenn es Krankheit ist, welche diese Krise ausgelöst hat, dann weigert er sich auch, sich in die Ambulanz bringen zu lassen oder irgend etwas für sich zu unternehmen. Er gibt sich auf! Selbst in seinem eigenen Harn und Kot bleibt er dann liegen und nichts kümmert ihn mehr.
Wie wesentlich der Zusammenhang zwischen dieser lebensgefährlichen Selbstaufgabe und diesem Sichfallenlassen einerseits und andererseits dem Verlust des Zukunftserlebnisses ist, wurde mir einmal in dramatischer Weise vor Augen geführt: Mein Blockältester, ein nicht unbekannt gewesener ausländischer Komponist und Librettist, vertraute sich mir eines Tages folgendermaßen an. »Du, Doktor, ich möchte dir gerne etwas erzählen. Ich habe da neulich einen merkwürdigen Traum gehabt. Eine Stimme hat mir gesagt, ich dürfe mir etwas wünschen – ich soll ihr nur sagen, was ich gerne wissen möchte, sie wird mir jede Frage beantworten. Und weißt du, was ich da gefragt habe? Ich möchte wissen, wann der Krieg für mich zu Ende sein wird! Weißt du, Doktor, was ich meine: für mich! Das heißt, ich wollte wissen, wann wir, wann unser Lager befreit werden wird, also wann unsere Leiden aufhören werden.« Und wann hast du diesen Traum gehabt, frage ich ihn. »Im Feber 1945«, antwortet er (damals hatten wir Anfang März). Und was hat dir die Traumstimme gesagt, frage ich weiter. Und leise, geheimnisvoll, flüstert er mir zu: »Am 30. März...«
Als F., dieser mein Kamerad, mir von seinem Traum erzählte, war er noch voll Hoffnung und überzeugt, seine Traumstimme würde recht behalten. Aber der von ihr prophezeite Termin rückte immer näher heran – und die ins Lager dringenden Nachrichten über die militärische Lage ließen immer weniger wahrscheinlich erscheinen, daß die Front tatsächlich noch im März uns die Befreiung bringen könnte. Da geschah folgendes. Am 29. März erkrankte F. plötzlich unter hohem Fieber. Am 30. März – also an dem Tage, an dem der Prophezeiung gemäß der Krieg und damit das Leiden »für ihn« zu Ende sein sollte! – begann F. schwer zu delirieren und verlor schließlich das Bewußtsein... Am 31. März war er tot. Er war an Fleckfieber gestorben.
Wer es weiß, welch innige Zusammenhänge zwischen der Gemütslage eines Menschen und so auch Affekten wie Mut und Hoffnung bzw. Mutlosigkeit und Hoffnungslosigkeit auf der einen Seite und auf der
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