... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
»ein Geschenk des Himmels« sein, so aufrecht dem Tode entgegengehen zu können, und nun, schrieb er weiter, habe ihm sein Schicksal – diese Chance gewährt.
Nun, wer von uns, die wir seinerzeit, vor Jahren, einen andern Film sahen, »Auferstehung« nach Tolstoi, hätte nicht ebenfalls gedacht: das sind große Schicksale, das sind große Menschen. Unsereins kommt aber wohl nicht zu so einem großen Schicksal, hat daher auch wohl niemals die Chance, zu solcher menschlichen Größe emporzuwachsen... Und dann gingen wir nach Schluß der Vorstellung ins nahegelegene Automatenbuffet und vergaßen bei Sandwich und Mokka die sonderbaren metaphysichen Gedanken, die für einen Augenblick unser Bewußtsein durchkreuzt hatten. Aber wenn man selber vor ein großes Schicksal gestellt war, wenn man dann selber vor der Entscheidung stand, sich mit eigener innerer Größe dem Schicksal eben zu stellen -, dann dachte man längst nicht mehr an jene spielerischen Vorsätze, und man versagte...
Für den einen oder andern kam aber dann vielleicht der Tag, an dem er wieder im Kino saß und der gleiche oder ein ähnlicher Film vor seinen Augen abrollte, während innerlich, vor seinem geistigen Auge, gleichzeitig ein Film der Erinnerung ablief, der Erinnerung an jene Menschen, die all dies und noch mehr, als eine sentimentale Filmproduktion zu zeigen vermöchte, in je ihrem Leben verwirklicht haben. Dann mag einem dieses oder jenes Detail aus dieser oder jener Geschichte von der inneren Größe eines Menschen einfallen – wie etwa die Geschichte vom Sterben einer jungen Frau im Konzentrationslager, deren Zeuge ich war. Die Geschichte ist schlicht – es gibt da nicht viel zu erzählen – und trotzdem wird sie wie erfunden klingen, so dichterisch erscheint sie mir:
Diese junge Frau wußte, daß sie in den nächsten Tagen werde sterben müssen. Als ich mit ihr sprach, war sie trotzdem heiter. »Ich bin meinem Schicksal dankbar dafür, daß es mich so hart getroffen hat«, sagte sie zu mir wörtlich; »denn in meinem früheren, bürgerlichen Leben war ich zu verwöhnt und mit meinen geistigen Ambitionen war es mir wohl nicht ganz ernst.« In ihren letzten Tagen war sie ganz verinnerlicht. »Dieser Baum da ist der einzige Freund in meinen Einsamkeiten«, meinte sie und wies durchs Fenster der Baracke. Draußen stand ein Kastanienbaum gerade in Blüte, und wenn man sich zur Pritsche der Kranken hinabneigte, konnte man, durch das kleine Fenster der Revierbaracke, eben noch einen grünenden Zweig mit zwei Blütenkerzen wahrnehmen. »Mit diesem Baum spreche ich öfters«, sagt sie dann. Da werde ich stutzig und weiß nicht, wie ich ihre Worte zu deuten habe. Sollte sie delirant sein und zeitweise halluzinieren? Darum frage ich neugierig, ob der Baum ihr vielleicht auch antworte – ja? – und was er ihr da sage. Darauf gibt sie mir zur Antwort: »Er hat mir gesagt: Ich bin da – ich – bin – da – ich bin das Leben, das ewige Leben...«
Analyse der provisorischen Existenz
Wenn vorhin davon die Rede war, daß der letzte Grund für die Deformierung der inneren Lebenswirklichkeit des Menschen im Konzentrationslager nicht in den aufgezählten psycho-physischen Ursachen liegt, sondern daß ihr letzlich eine freie Entscheidung zugrunde liegt, so soll dies im folgenden näher erläutert werden. Die psychologische Beobachtung an den Lagerhäftlingen hat vor allem ergeben, daß nur derjenige in seiner Charakterentwicklung den Einflüssen der Lagerwelt verfällt, der sich zuvor geistig und menschlich eben fallen gelassen hat; fallen ließ sich aber nur derjenige, der keinen inneren Halt mehr besaß! Worin hätte nun solch ein innerer Halt bestehen sollen und können? Dies ist jetzt unsere Frage.
Übereinstimmend hört man aus Berichten und Selbstschilderungen des Erlebens ehemaliger Lagerinsassen immer wieder heraus, daß das Bedrückendste eigentlich die Tatsache gewesen sei, daß der Häftling im allgemeinen nie weiß, wie lange er noch im Konzentrationslager wird verbleiben müssen. Er kennt keinen Entlassungstermin! Der Entlassungstermin – sofern ein solcher überhaupt zur Diskussion stand (in unserem Lager konnte er z.B. gar nicht zur Diskussion stehen) – war so unbestimmt, daß sich praktisch und erlebnismäßig nicht nur eine unabgrenzbare, sondern eine unbegrenzte Haftdauer ergeben mußte. Und wenn ein bekannter psychologischer Forscher gelegentlich einmal darauf hingewiesen hat, daß sich die Daseinsweise im
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