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... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)

... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)

Titel: ... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Viktor E. Frankl
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anderen Seite der Immunitätslage des Organismus bestehen, dem wird es auch verständlich erscheinen, welche tödlichen Auswirkungen das jähe Versinken in Hoffnungslosigkeit und Mutlosigkeit haben kann: mein Kamerad F. ist letzen Endes daran gestorben, daß seine schwere Enttäuschung über das Nichteintreffen der pünktlich erwarteten Befreiung die Abwehrkraft seines Organismus gegen die bereits schlummernde Fleckfieber-Infektion plötzlich absinken ließ. Sein Zukunftsglaube und sein Zukunftswille erlahmten, und so erlag sein Organismus der Krankheit – und so behielt schließlich seine Traumstimme recht...
    Mit der Beobachtung dieses Einzelfalles und den daraus gezogenen Schlüssen steht in Übereinstimmung, worauf mich der Oberarzt unseres Konzentrationslagers gelegentlich aufmerksam machte; daß nämlich in der Woche zwischen Weihnachten 1944 und Neujahr 1945 ein bis dahin noch nie gesehenes Massensterben in unserem Lager einsetzte. Auch seiner Ansicht nach war es weder durch erschwerte Arbeitsbedingungen noch durch verschlechterte Ernährungslage oder geänderte Wetterlage oder neu hinzugekommene Epidemien zu erklären, vielmehr war die Ursache dieses Massensterbens lediglich in der Tatsache zu suchen, daß sich die Mehrzahl der Häftlinge der üblichen naiven Hoffnung hingegeben hatten, schon Weihnachten würden sie wieder zu Hause sein. Als die Zeitungsnachrichten jedoch nichts weniger als ermutigend klangen, während dieser Termin heranrückte, bemächtigte sich der Lagerinsassen jene allgemeine Mutlosigkeit und Enttäuschtheit, deren gefährlicher Einfluß auf die Widerstandskraft der Häftlinge sich eben auch in diesem Massensterben zu jener Zeit erwies.
    Wir sagten vorhin, jeder Versuch, die Menschen im Konzentrationslager innerlich wieder aufzurichten, setze voraus, daß es uns gelingt, sie auf ein Ziel in der Zukunft hin auszurichten. Die Devise nun, unter der alle psychotherapeutischen oder psychohygienischen Bemühungen den Häftlingen gegenüber stehen mußten, ist vielleicht am treffendsten ausgedrückt in den Worten von Nietzsche: »Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.« Man mußte also den Lagerinsassen, sofern sich hie und da einmal die Gelegenheit hierzu bot, das »Warum« ihres Lebens, ihr Lebensziel, bewußt machen, um so zu erreichen, daß sie auch dem furchtbaren »Wie« des gegenwärtigen Daseins, den Schrecken des Lagerlebens, innerlich gewachsen waren und standhalten konnten. Umgekehrt: wehe dem, der kein Lebensziel mehr vor sich sah, der keinen Lebensinhalt mehr hatte, in seinem Leben keinen Zweck erblickte, dem der Sinn seines Daseins entschwand – und damit jedweder Sinn eines Durchhaltens. Solche Leute, die auf diese Weise völlig haltlos geworden waren, ließen sich alsbald fallen. Die typische Redewendung, mit der sie allen aufmunternden Argumenten entgegentraten und jeglichen Zuspruch ablehnten, lautete dann immer: »Ich hab ja vom Leben nichts mehr zu erwarten.« Was soll man demgegenüber nun erwidern?

Nach dem Sinn des Lebens fragen
     
    Was hier not tut, ist eine Wendung in der ganzen Fragestellung nach dem Sinn des Lebens: Wir müssen lernen und die verzweifelnden Menschen lehren, daß es eigentlich nie und nimmer darauf ankommt, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf: was das Leben von uns erwartet! Zünftig philosophisch gesprochen könnte man sagen, daß es hier also um eine Art kopernikanische Wende geht, so zwar, daß wir nicht mehr einfach nach dem Sinn des Lebens fragen, sondern daß wir uns selbst als die Befragten erleben, als diejenigen, an die das Leben täglich und stündlich Fragen stellt – Fragen, die wir zu beantworten haben, indem wir nicht durch ein Grübeln oder Reden, sondern nur durch ein Handeln, ein richtiges Verhalten, die rechte Antwort geben. Leben heißt letztlich eben nichts anderes als: Verantwortung tragen für die rechte Beantwortung der Lebensfragen, für die Erfüllung der Aufgaben, die jedem einzelnen das Leben stellt, für die Erfüllung der Forderung der Stunde.
    Diese Forderung, und mit ihr der Sinn des Daseins, wechselt von Mensch zu Mensch und von Augenblick zu Augenblick. Nie kann also der Sinn menschlichen Lebens allgemein angegeben werden, nie läßt sich die Frage nach diesem Sinn allgemein beantworten – das Leben, wie es hier gemeint ist, ist nichts Vages, sondern jeweils etwas Konkretes, und so sind auch die Forderungen des Lebens an uns jeweils ganz konkrete. Diese Konkretheit

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