... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
nicht geringe Geldbeträge insgeheim hergegeben, um aus der Apotheke des nahen Marktfleckens Medikamente für seine Lagerinsassen besorgen zu lassen! Die Geschichte hatte ein Nachspiel: Nach der Befreiung versteckten jüdische Häftlinge den SS-Mann vor den amerikanischen Truppen und erklärten deren Kommandanten gegenüber, sie würden ihm den SS-Mann einzig und allein unter der Bedingung ausliefern, daß ihm kein Haar gekrümmt wird. Der amerikanische Truppenkommandant gab ihnen nun sein Offiziersehrenwort, und die jüdischen Häftlinge führten ihm den gewesenen Lagerkommandanten vor. Der Truppenkommandant ernannte den SS-Mann wieder zum Lagerkommandanten – und der SS-Mann organisierte für uns Lebensmittel- und Kleidersammlungen unter der Bevölkerung der umliegenden Dörfer.
Der Lagerälteste eben dieses Lagers jedoch, also ein Häftling, war schärfer als alle SS-Wachen des Lagers zusammen; er schlug die Häftlinge, wann und wo und wie er nur konnte, während beispielsweise der Lagerführer meines Wissens kein einziges Mal die Hand gegen einen »seiner« Häftlinge erhoben hat.
Daraus ersieht man eines: mit der Kennzeichnung eines Menschen als Angehörigen der Lagerwache oder, umgekehrt, als Lagerhäftling ist nicht das geringste gesagt. Menschliche Güte kann man bei allen Menschen finden, sie findet sich also auch bei der Gruppe, deren pauschale Verurteilung doch gewiß sehr nahe liegt. Es überschneiden sich eben die Grenzen! So einfach dürfen wir es uns nicht machen, daß wir erklären: die einen sind Engel und die andern sind Teufel. Im Gegenteil: entgegen der allgemeinen Suggestion, die sich im Lagerleben auswirkt, als Wachtposten oder Aufseher den Häftlingen gegenüber menschlich zu sein, ist und bleibt irgendwie eine persönliche und moralische Leistung; andererseits ist die Niedertracht eines Häftlings, der seinen eigenen Leidensgenossen Übles antut, besonders verwerflich. Daß die Charakterlosigkeit eines solchen Menschen die Lagerhäftlinge besonders schmerzt, ist ebenso klar wie andererseits die tiefe Erschütterung, mit der ein Häftling die geringste Menschlichkeit entgegennimmt, die ihm etwa von einem Wachtposten erwiesen wird. Wenn ich mich z.B. daran erinnere, wie mir ein Vorarbeiter (also ein Nicht-Häftling) eines Tages verstohlen ein kleines Stück Brot reichte – von dem ich wußte, daß er es sich von seiner Frühstücksration abgespart haben mußte -, dann erinnere ich mich auch daran, daß es bei weitem nicht dieses Stück Brot als materielles Etwas war, das mich damals buchstäblich zu Tränen rührte; sondern es war das menschliche Etwas, das dieser Mann mir damals gab, und das menschliche Wort sowie der menschliche Blick, der die Gabe begleitete...
Aus all dem können wir lernen: es gibt auf Erden zwei Menschenrassen, aber auch nur diese beiden: die »Rasse« der anständigen Menschen und die der unanständigen Menschen. Und beide »Rassen« sind allgemein verbreitet: in alle Gruppen dringen sie ein und sickern sie durch; keine Gruppe besteht ausschließlich aus anständigen und ausschließlich aus unanständigen Menschen, in diesem Sinne ist also keine Gruppe »rassenrein« – nun, und so gab es den einen oder andern anständigen Kerl eben auch unter der Wachmannschaft!
Das Leben im Konzentrationslager ließ zweifelsohne einen Abgrund in die äußersten Tiefen des Menschen aufbrechen. Soll es uns da wundern, daß in diesen Tiefen auch wieder nur das Menschliche sichtbar wird? Das Menschliche als das, was es ist -, als eine Legierung von gut und böse! Der Riß, der durch alles Menschsein hindurchgeht und zwischen gut und böse scheidet, reicht auch noch bis in die tiefsten Tiefen und wird eben auf dem Grunde auch noch dieses Abgrunds, den das Konzentrationslager darstellt, offenbar.
Wir haben den Menschen kennengelernt wie vielleicht bisher noch keine Generation. Was also ist der Mensch? Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist. Er ist das Wesen, das die Gaskammern erfunden hat; aber zugleich ist er auch das Wesen, das in die Gaskammern gegangen ist aufrecht und ein Gebet auf den Lippen.
Die dritte Phase: Nach der Befreiung aus dem Lager
Und jetzt wollen wir uns dem letzten Abschnitt innerhalb einer Psychologie des Konzentrationslagers zuwenden: der Psychologie des aus dem Lager befreiten Häftlings.
Bei der Schilderung des Befreiungserlebnisses, die naturgemäß nie eine unpersönliche Darstellung sein kann, wollen wir an jenen Teil unseres Berichts
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