... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
geäußert hatten. Beide gaben in der gekennzeichneten typischen Weise an, sie hätten »vom Leben nichts mehr zu erwarten«. Beiden gegenüber galt es jedoch, ihnen zu zeigen, daß das Leben von ihnen etwas erwarte, daß etwas im Leben, in der Zukunft, auf sie warte. Tatsächlich ergab sich auch, daß auf den einen ein Mensch wartete: sein Kind, an dem er mit abgöttischer Liebe hing, »wartete« im Ausland auf den Vater. Auf den andern »wartete« jedoch nicht eine Person, sondern eine Sache: sein Werk! Dieser Mann war nämlich Wissenschaftler und hatte über ein bestimmtes Thema eine Bücherserie erscheinen lassen, die noch nicht abgeschlossen war und ihrer Vollendung harrte. Für dieses Werk war dieser Mensch unersetzlich und unaustauschbar; aber er war so nicht mehr und nicht weniger unvertretbar, als jener erste, der, innerhalb der Liebe seines Kindes zu ihm, gleichermaßen unersetzlich und unaustauschbar war: jene Einmaligkeit und Einzigartigkeit, die jeden einzelnen Menschen auszeichnet und jedem einzelnen Dasein erst Sinn verleiht, kommt also sowohl in bezug auf ein Werk oder eine schöpferische Leistung zur Geltung, als auch in bezug auf einen andern Menschen und dessen Liebe. Diese Unvertretbarkeit und Unersetzlichkeit jeder einzelnen Person ist jedoch das, was – zu Bewußtsein gebracht – die Verantwortung, die der Mensch für sein Leben und Weiterleben trägt, so recht in ihrer ganzen Größe aufleuchten läßt. Ein Mensch, der sich dieser Verantwortung bewußt geworden ist, die er gegenüber dem auf ihn wartenden Werk oder einem auf ihn wartenden liebenden Menschen hat, ein solcher Mensch wird nie imstande sein, sein Leben hinzuwerfen. Er weiß eben um das »Warum« seines Daseins – und wird daher auch fast jedes »Wie« zu ertragen vermögen.
Ein Wort zur rechten Zeit
Die Möglichkeiten zur kollektiven Psychotherapie waren im Lager naturgemäß äußerst beschränkt. Viel mehr als es Reden je vermöchte, war diesbezüglich eines wirksam: das Vorbild! Soweit es beispielsweise unter den Blockältesten einen nicht bonzenhaften gab, hatte der tausendfach Gelegenheit, durch sein aufrechtes und ermutigendes Wesen eine tiefe und weitgehende Wirkung auf die seinem Einfluß Unterstellten auszuüben. Die unmittelbare Wirkung des Seins, des Vorbildseins, ist immer eine größere als die der Sprache. Hin und wieder war aber auch das Wort wirksam, namentlich dann, wenn aus irgendeinem äußeren Grunde das innere Echo erhöht war. So erinnere ich mich an die im folgenden dargestellte Gelegenheit, durch eine Art kollektive Aussprache die durch eine bestimmte äußere Situation gesteigerte innere Bereitschaft der Insassen einer ganzen Baracke psychotherapeutisch auszuwerten.
Es war ein arger Tag gewesen: Vor kurzem war beim Appell verkündet worden, was alles von nun an als Sabotage angesehen werde und demgemäß sofort mit Erhängen bestraft würde; unter solche Delikte fielen Dinge wie Abschneiden schmaler Streifen von unseren alten Decken (was zur Herstellung improvisierter Gamaschen von uns vielfach gemacht worden war), ferner der geringfügigste »Diebstahl«. Nun war vor einigen Tagen ein halbverhungerter Häftling in den Kartoffelbunker eingedrungen, um ein paar Kilogramm Kartoffeln zu stehlen. Der Einbruch war entdeckt und der »Einbrecher« von andern Häftlingen festgestellt worden. Nachdem die Lagerführung von der Sache Wind bekommen hatte, verlangte sie die Auslieferung des Delinquenten, widrigenfalls das ganze Lager einen Fasttag aufdiktiert bekäme. Selbstverständlich fasteten lieber 2500 Kameraden, als daß sie den einen dem Galgen überantwortet hätten. Am Abend dieses Fasttages lagen wir nun in unserer Erdhütte in besonders übler Stimmung beisammen.
Es wurde nur wenig gesprochen und wenn, dann war jedes Wort gereizt. Da geschah noch ein übriges: das Licht ging aus. Die Stimmung erreichte ihren Tiefpunkt. Der Blockälteste aber, ein kluger Mann, improvisierte eine kleine Plauderei über all das, was uns alle innerlich so sehr beschäftigte: er sprach über die vielen Kameraden, die in den letzten Tagen als Kranke oder als Selbstmörder gestorben waren. Er sprach aber auch darüber, was der wahre Grund dieses Sterbens, der einen sowohl wie der andern Art, gewesen sein mochte: das Sich-selbst-Aufgeben. Darüber und über die Frage, wie man die voraussichtlichen nächsten Opfer des tödlichen inneren Sich-fallen-Lassens irgendwie vielleicht noch davor bewahren könnte, wollte unser
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