... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
Blockältester nun einiges zur Erklärung hören – und er apostrophierte mich! Weiß Gott, ich war nichts weniger als in der Stimmung, psychologische Erklärungen abzugeben oder meinen Barackengenossen seelenärztlichen Zuspruch, gleichsam ärztliche Seelsorge zukommen zu lassen. Mich fror und hungerte, und auch ich war schlapp und gereizt. Aber ich mußte mich aufraffen und diese einzigartige Möglichkeit nützen, denn Zuspruch war jetzt nötiger als je.
Ärztliche Seelsorge
So begann ich – und ich begann damit, daß ich davon sprach, daß die Zukunft jedem Unbefangenen trostlos erscheinen müsse; ich gab zu, daß jeder von uns sich beiläufig schon ausrechnen könne, wie gering die Wahrscheinlichkeit sei, zu überleben. Noch herrschte im Lager keine Fleckfieber-Epidemie; und trotzdem veranschlagte ich meine Aussicht, zu überleben, mit ungefähr fünf Prozent. Und sagte es den Leuten! Denn ich sagte ihnen auch, daß ich, für meine eigene Person, trotzdem nicht daran dächte, die Hoffnung aufzugeben und die Flinte ins Korn zu werfen. Denn kein Mensch wisse die Zukunft, kein Mensch wisse, was ihm vielleicht schon die nächste Stunde bringe. Und wenn wir uns auch keine sensationellen militärischen Ereignisse für den nächsten Tag erwarten dürften – wer könnte es besser wissen als wir mit unserer Lagererfahrung, daß sich oft plötzlich irgendeine große Chance ergibt, zumindest für den einzelnen: eine unvermutete Einreihung in einen kleinen Transport zu einem Sonderkommando mit besonders günstigen Arbeitsbedingungen oder dergleichen – Dinge, wie sie nun einmal die Sehnsucht und das höchste »Glück« eines Lagerhäftlings ausmachen.
Aber ich sprach nicht nur von der Zukunft und von dem Dunkel, in das sie glücklicherweise gehüllt war, und von der Gegenwart mit all ihren Leiden, sondern ich sprach auch von der Vergangenheit – von all ihren Freuden und dem Licht, das sie noch in die Finsternis unserer Tage spendete. Ich zitierte den Dichter, der da sagt: »Was du erlebt, kann keine Macht der Welt dir rauben.« Was wir in der Fülle unseres vergangenen Lebens, in dessen Erlebnisfülle verwirklicht haben, diesen inneren Reichtum kann uns nichts und niemand mehr nehmen. Aber nicht nur, was wir erlebt; auch das, was wir getan, das, was wir Großes je gedacht, und das, was wir gelitten... all das haben wir hereingerettet in die Wirklichkeit, ein für allemal. Und mag es auch vergangen sein – eben in der Vergangenheit ist es für alle Ewigkeit gesichert! Denn Vergangensein ist auch noch eine Art von Sein, ja vielleicht die sicherste.
Und dann sprach ich schließlich noch von der Vielfalt der Möglichkeiten, das Leben mit Sinn zu erfüllen. Ich erzählte meinen Kameraden (die ganz still dalagen und sich kaum rührten, höchstens ab und zu ein ergriffenes Seufzen hören ließen) davon, daß menschliches Leben immer und unter allen Umständen Sinn habe, und daß dieser unendliche Sinn des Daseins auch noch Leiden und Sterben, Not und Tod in sich mit einbegreife. Und ich bat diese armen Teufel, die mir hier in der stockfinstern Baracke aufmerksam zuhörten, den Dingen und dem Ernst unserer Lage ins Gesicht zu sehen und trotzdem nicht zu verzagen, sondern im Bewußtsein, daß auch die Aussichtslosigkeit unseres Kampfes seinem Sinn und seiner Würde nichts anhaben könne, den Mut zu bewahren. Auf jeden von uns, sagte ich ihnen, sehe in diesen schweren Stunden und erst recht in der für viele von uns nahenden letzten Stunde irgend jemand mit forderndem Blick herab, ein Freund oder eine Frau, ein Lebender oder ein Toter – oder ein Gott. Und er erwarte von uns, daß wir ihn nicht enttäuschen und daß wir nicht armselig, sondern stolz zu leiden und zu sterben verstehen!
Und dann sprach ich, zum Schluß, von unserem Opfer; daß es Sinn habe, auf jeden Fall. Daß es im Wesen des Opfers liege, unter der Voraussetzung gebracht zu werden, daß scheinbar, daß in dieser Welt – in der Welt des Erfolgs – nichts damit erreicht würde. Sei es nun, daß es sich um ein Sichopfern für eine politische Idee handelt, oder sei es, daß es um die Selbstaufopferung eines Menschen für einen andern geht. Freilich, derjenige unter uns, der im religiösen Sinne gläubig ist, der könne dies leicht einsehen; und ich sagte ihnen das auch. Und ich erzählte ihnen von jenem Kameraden, der zu Beginn seines Lageraufenthalts dem Himmel einen Pakt angetragen hatte: sein Leiden und sein Sterben möge dem von ihm so geliebten
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