... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
nackte Rechte unter die Nase hielt und mir entgegenschrie: »Diese Hand soll man mir abhauen, wenn ich sie nicht mit Blut beflecke an jenem Tag, an dem ich heimkomme...!« Und ich will betonen: dieser Mann, der das aussprach, war an sich kein übler Kerl und war immer, im Lager und nachher, der beste Kamerad gewesen.
Neben der Deformierung, die dem vom seelischen Druck plötzlich entlasteten Menschen droht, gibt es noch zwei weitere Grunderlebnisse, die ihn charakterologisch gefährden, schädigen und deformieren können: die Verbitterung und die Enttäuschung des Menschen, der als freier in sein altes Leben zurückkehrt. – Die Verbitterung wird hervorgerufen durch so manche Erscheinungen des öffentlichen Lebens innerhalb des Rahmens, der die frühere Umwelt des aus dem Lager Entlassenen ausmacht. Wenn so ein Mensch heimkehrt und feststellen muß, daß man ihm hier oder da mit nichts besserem als Achselzucken oder billigen Phrasen gegenübertritt, dann bemächtigt sich seiner nicht selten eine Verbitterung, die ihm die Frage aufdrängt, wozu er eigentlich alles erduldet hat. Wenn er fast überall nichts anderes vorgesetzt bekommt als die üblichen Redewendungen: »wir haben von nichts gewußt...« und »wir haben auch gelitten...«, dann wird er sich fragen müssen, ob das wirklich alles ist, was man ihm zu sagen weiß...
Anders liegen die Dinge beim Grunderlebnis der Enttäuschung. Hier ist es nicht der Mitmensch, über dessen Oberflächlichkeit oder Herzensträgheit man schließlich einfach so entsetzt ist, daß man sich am liebsten nur verkriechen möchte, um von der Mitwelt nichts mehr sehen und hören zu müssen... hier, im Erlebnis der Enttäuschung, ist es das Schicksal, dem gegenüber der Mensch sich ausgeliefert fühlt; der Mensch nämlich, der nun durch Jahre geglaubt hat, den Tiefpunkt möglichen Leidens erreicht zu haben, jetzt aber feststellen muß, daß das Leid irgendwie bodenlos ist, daß es anscheinend keinen absoluten Tiefpunkt gibt: daß es mit einem immer noch tiefer, noch immer bergab gehen kann...
Wir haben oben, bei der Besprechung der Versuche, den Menschen im Konzentrationslager seelisch aufzurichten, davon gesprochen, daß er auf einen Zielpunkt in der Zukunft hin ausgerichtet werden mußte; daß er immer wieder daran zu erinnern war, daß das Leben auf ihn warte, daß – ein Mensch auf ihn warte. Und dann? Dann gibt es eben den einen oder andern, der nun feststellen muß, daß niemand mehr auf ihn gewartet hat...
Wehe dem, für den das, was ihn im Lager als einziges aufrecht gehalten hat, – der geliebte Mensch – nicht mehr existiert. Wehe dem, der jenen Augenblick, von dem er in tausend Träumen der Sehnsucht geträumt hat, nun wirklich erlebt, aber anders, ganz anders, als er sich ihn ausgemalt. Er steigt in die Straßenbahn ein, fährt hinaus zu jenem Haus, das er Jahre hindurch im Geist und nur im Geist vor sich gesehen hat, und drückt auf den Klingelknopf – ganz genau so, wie er es in seinen tausend Träumen ersehnte... Aber es öffnet nicht der Mensch, der nun öffnen sollte -, er wird ihm auch nie mehr wieder die Tür öffnen...
Alle im Lager wußten es und sagten es einander: es gibt kein Glück auf Erden, das je wiedergutmachen könnte, was wir erleiden. Um Glück war es uns auch nie zu tun – was uns aufrecht hielt, was unserem Leiden und Opfern und Sterben Sinn geben konnte, war nicht Glück. Trotzdem: auf Unglück – darauf war man kaum gefaßt. Diese Enttäuschung, die nicht wenigen von den Befreiten in der neuen Freiheit vom Schicksal beschieden war, ist ein Erlebnis, über das diese Menschen nur schwer hinweggekommen sind und, seelenärztlich gesehen, auch sicherlich nicht leicht hinweggebracht werden können. Diese Feststellung ist aber nichts, was den Seelenarzt entmutigen dürfte – im Gegenteil: sie hat ihm Ansporn zu sein, denn sie hat Aufgabencharakter.
So oder so – einmal kommt der Tag, für jeden der Befreiten, an dem er, rückschauend auf das gesamte Erlebnis des Konzentrationslagers, eine merkwürdige Empfindung hat: er kann es nun selber nicht verstehen, wie er imstande war, all das durchzustehen, was das Lagerleben von ihm verlangt hat. Und wenn es in seinem Leben einen Tag gab – den Tag der Freiheit -, an dem ihm alles wie ein schöner Traum erschien, dann kommt einmal der Tag, an dem ihm alles, was er im Lager erlebt, nur mehr wie ein böser Traum vorkommt. Gekrönt wird aber all dieses Erleben des heimfindenden Menschen von dem
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