... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
einen geben, der uns zusieht, irgendwo...
KANT: Stehen Sie das erste Mal auf einer Bühne, liebe Frau?
MUTTER: Ja, mein Herr.
KANT: Dann sagen Sie mir einmal, was Sie da sehen – hier (weist in den Zuschauerraum).
MUTTER (blinzelnd): Ich sehe nichts, die Lampen blenden mich – ich sehe ein großes schwarzes Loch.
KANT: Und wenn ich Ihnen sage: es gibt doch Zuschauer -?
MUTTER (blickt ihn vertrauensvoll an): Dann muß ich’s wohl glauben.
KANT: Ja – (bestimmt) Sie müssen es glauben; denn wissen können wir es nicht. Wir kennen ihn alle mitsammen nicht, den großen Zuschauer unserer Lebensspiele. Er sitzt im Dunkel, da wo (weisende Geste) in irgendeiner Loge. Aber er sieht uns zu, unverwandt – glauben Sie mir, liebe Frau.
SPINOZA: Glauben Sie ihm!
SOKRATES: Glauben Sie uns!
MUTTER (fest): Ja – ich glaube...
FRANZ: Und was willst du tun?
KARL (hat inzwischen Franz berichtet): Ich werde selbstverständlich schweigen.
FRANZ: Dann kannst du mir gleich Adieu sagen, für immer.
KARL (zärtlich): Du Hund von einem Bruder – was denn soll ich tun? Warum – ich darf mich kein einziges Mal zu deinem Standpunkt bekennen? Nun – heute will ich opfern. Heut will ich mein Leben sinnvoll machen – nach deiner Theorie – und heut hol ich mir den sinnvollen Tod!
FRANZ: Sprich nicht so, Karl, es tut weh.
KARL (immer hitziger): Seit wann ist das ein Argument? Du Hund von einem Bruder. (Schlingt den Arm um seine Schulter) Hast mir doch selber immer wieder gepredigt: Das Leiden gehört dazu zum Leben – auch das Leiden hat Sinn.
FRANZ: Es ist auch so. Aber wenn man dann drinnen steht, und es leisten soll – wenn man sich bewähren soll -
KARL: – dann erst wird es wahr. Nicht solang man redet, erst sobald man es bewährt, dann erst hat man es wahr »gemacht«. Hab ich noch zu wenig gelernt von dir?
FRANZ: Karl, du lieber!
KARL: Du alter Hund von einem Bruder...
UNTERSCHARFÜHRER (kommt wieder, von links).
PAUL: Achtung!
UNTERSCHARFÜHRER: Raus mit dir, du Dreckschwein – wo ist es hin?
KARL: Hier bin ich. (Zu Franz, leiser) Ich werde es bewähren – ich werde mich bewähren – ich werde sie bestehen, die Prüfung!
FRANZ (läßt wortlos seine Hand entgleiten).
UNTERSCHARFÜHRER (mit Karl ab).
MUTTER (zu den Philosophen, ängstlich besorgt): Jetzt wird er geprüft, meine Herren?
KANT: Jawohl – jetzt wird er geprüft.
PAUL (langsam zu Franz): Jetzt ist es soweit, gelt?
FRANZ: Ja; aber er wird sie bestehen, die Prüfung, er hat es ja gesagt – er hat es sich versprochen.
PAUL: Er ist ein feiner Kerl – alles in allem. Auf den kannst du stolz sein, das nenne ich einen Bruder.
FRANZ: Er ist ganz anders als ich – ich rede – er handelt...
SPINOZA (erregt, nach rechts in die Ferne blickend): Sehen Sie, Herr Professor – er haut ihn nieder.
KANT: Ich sehe schlecht – wer, der Engel?
SOKRATES: Ja, der Engel.
SPINOZA: Der Junge liegt auf dem Boden – er blutet schon.
SOKRATES: Aber er spricht nicht!
KANT: Wie? – Er sagt nicht aus? Trotz der Schläge nicht?
SOKRATES: Nein – er schweigt, er bleibt standhaft.
SPINOZA (aufgewühlt): Sehen Sie – er leidet. Er muß furchtbar leiden – könnte ich ihm doch helfen! – Ach, was bin ich! – Geschrieben hab ich – aber es wird nicht gelesen, und es wird nicht verstanden. Was hab ich ihnen nicht alles zugerufen, den Menschen! Affectus desinit esse passio... das Leben hört auf, Leiden zu sein... aber sie haben nicht gehört, wie sie es anstellen müssen, die Menschen.
KANT (aufgeregt): Er soll nur standhaft bleiben – könnt ich ihm doch meinen kategorischen Imperativ zurufen: Mensch, handle so, als ob...
SOKRATES (wehmütig): Er versteht euch nicht. (Betont) Ihr müßtet auf menschlich sprechen, nicht auf philosophisch.
SPINOZA: Was heißt: auf menschlich? Man übersetzt uns ja alle paar Jahre in alle möglichen Sprachen!
SOKRATES: Er kann uns ja gar nicht hören. Überhaupt – was wollen Sie denn? Niemand versteht uns – - außer er kommt von selber drauf. Keiner versteht, was wir sagen oder schreiben, ehe er nicht selbständig denkt, bevor er es nicht selber entdeckt und sich selber erweckt. Ist es uns anders ergangen? Wir haben doch auch erst tun müssen, was wir dachten. Solang wir es nicht taten, waren wir nicht dahinter und wirkten wir nicht. Ich wenigstens, für meine Person: wirksam wurde ich erst – nicht durch meine Reden – - wirksam wurde ich erst durch mein Sterben...
SPINOZA: Schauen Sie hin –
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