... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
bekümmert, von rechts her, wo kein Zugang in die Baracke sichtbar ist, auftretend): Da sind sie ja. (Bleibt in der Nähe der Söhne.)
KARL: So geht die Opferei weiter, und nichts schaut dabei heraus.
FRANZ: Sprich nicht so, Karl. Du weißt genau so gut wie ich, daß dieser Dreck, den wir Leben nennen, sinnlos wäre und nicht wert gelebt zu werden, wenn wir nicht jeden Augenblick bereit wären, ihn hinzuschmeißen für etwas anderes.
KARL: Etwas anderes – was, was?!
FRANZ: Nenn es, wie du willst. Du spürst es, du genau so wie ich -, wir wenigstens ahnen es.
KARL: Alles hat seine Grenzen. Du kannst nicht so ohne weiteres dein Leben hinhaun...
FRANZ: Warum nicht, wenn dieses Hinhaun sinnvoll ist?
KARL: Was nennst du sinnvoll – daß wir alle hin sind zu guter Letzt?
FRANZ: Vielleicht auch das. Das Dreckleben ist jedenfalls sinnlos, wenn man sich an diesen Dreck klammert. Wer nicht bereit ist, ihn zu opfern, der vegetiert und krepiert; sein Leben ist sinnlos. Wer aber bereit ist, sein Dreckleben hinzuschmeißen, dessen Tod sogar kann noch sinnvoll sein. Das ist mein Standpunkt. Und ich würde ihn nie auszusprechen wagen, wenn – wenn wir nicht hier säßen.
KANT: Allerhand – haben Sie gehört, meine Herren?
SPINOZA: Ich trau ihnen nicht, offen gesagt.
SOKRATES: Es wird sich vielleicht noch alles bewähren.
MUTTER (tritt zu den Philosophen, schüchtern, demütig): Ich bitte Sie, meine Herren, seien Sie mir nicht bös, aber das sind meine beiden Söhne – sie waren das Letzte, was ich hatte. Sind sie nicht prächtig? Sind sie nicht brave Kinder? Nur dumm – ach, so dumm! Franz hätte nach Amerika gehen können, noch rechtzeitig, müssen Sie wissen. Aber er ist geblieben, bei meinem Mann und mir, ich weiß warum: er wollte uns nicht im Stich lassen – ja, das war es. Mein Mann und ich, wir haben ihn gebeten, doch zu fahren. Nein, hat er gesagt, ich bleib hier, mir geht es hier gar nicht schlecht. Verstehen Sie? Er wollte uns nicht wissen lassen, daß er nur unserthalben geblieben ist.
KANT (begütigend): Wir haben soeben festgestellt, daß Ihr Sohn Franz sehr gescheit ist, liebe Frau.
SPINOZA: Ein wirklich guter Mensch.
SOKRATES: Seien Sie getrost, liebe Frau. Wir werden uns um Ihre Söhne schon kümmern.
MUTTER (verneigt sich wiederholt): Ich danke Ihnen sehr, meine Herren – mit wem hab ich die Ehre?
KANT: Liebe Frau, Sie wissen – aber vergessen -: wir nennen nicht gern Namen.
MUTTER: Verzeihen Sie, verzeihen Sie. Ich dachte nur – ich möchte nämlich – ich hätte gern gewußt, ob Sie vielleicht für mich ein Wörtl einlegen könnten.
SPINOZA: Was – wofür – bei wem denn?
MUTTER: Ich hab nämlich solche Sehnsucht nach meinen beiden Jungen – und hier leiden sie so viel, ich weiß, ich seh – und da dachte ich, ich mache eine Eingabe, daß man sie zu mir gibt.
KANT: Das wird sich nicht machen lassen, liebe Frau.
SPINOZA (leise zu Kant): Sollte man es nicht doch auf einen Versuch ankommen lassen, Herr Professor?
SOKRATES: Lieber nicht, Baruch. Mischen wir uns nicht drein. Aber etwas anderes (zur Mutter): Stehen Sie Ihren Söhnen bei – und wir versprechen Ihnen, auch wir werden unser möglichstes tun.
MUTTER (gerührt): Ich danke Ihnen, meine Herren, vielen Dank! Vergelt’s Gott. Und, glauben Sie mir, sie sind es wert! Sehen Sie: da (kramt unbeholfen Briefe und kleine Pakete aus einer Handtasche heraus) - das alles hab ich von ihnen bekommen.
SPINOZA: Wieso – die da dürfen doch gar nicht schreiben, oder gar Pakete schicken, aus dem Lager heraus? KANT: Was ist es denn?
SOKRATES (sieht näher zu): O – verstehen Sie denn noch immer nicht? Das sind Gedanken, welche die beiden Söhne an ihre Mutter gerichtet haben. Und Gebete, die sie für die Mutter gebetet haben. Das nenne ich Gaben, Geschenke...
MUTTER (stolz): Ja – nicht wahr? Schöne Geschenke. So viel Briefe, fast täglich einen, und hie und da auch ein Packerl... Kann ich nicht stolz sein auf sie? Und sind sie nicht wert, daß man sich um sie sorgt und kümmert?
KANT: Sie haben recht.
SPINOZA: Sicher!
SOKRATES (gibt der Mutter ergriffen die Sachen zurück).
KANT (zu den Philosophen): Ach, wüßten doch die Menschen, daß alles seine Bedeutung hat, und daß die Bedeutung mehr ist als das, dem sie zukommt...
SPINOZA: Meister, stellen Sie sich vor, was die Menschen dazu sagen würden, wenn sie das wüßten – wie erstaunt sie da wären! Wie erstaunt wären etwa die Philosophieprofessoren, wenn sie nur
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