... trotzdem Ja zum Leben sagen: Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (German Edition)
haben.
MUTTER: Aber es wird ihm wehtun.
SPINOZA: Was ist schon Schmerz...
SOKRATES: – verstehen Sie denn nicht?
MUTTER: Das dürfen Sie sagen, unter sich. Aber das dürfen Sie keiner Mutter sagen, meine Herren. Nicht einer Mutter... (setzt sich betrübt zu Franz).
FRANZ (halblaut): Mutter, hilf ihm! Mutter, steh ihm bei!
MUTTER: Er ist in besten Händen, mein Kind; sorg dich nicht.
FRANZ (unverwandt): Mutter, steh ihm bei!
PAUL (setzt sich auf die andere Seite neben Franz): Was bist du so schweigsam?
FRANZ (aufschreckend): Was willst du denn?
PAUL (neugierig): Was ist los mit deinem Bruder? Vielleicht der Schwindel mit der Transportliste?
FRANZ: Wahrscheinlich.
PAUL: Habt ihr das nötig gehabt? Einen falschen Namen und eine falsche Häftlingsnummer annehmen – Kleinigkeit, was dabei herauskommen kann.
FRANZ: Wir wollten halt beisammen bleiben. Und der kleine Tscheche wollte so gern in Buchenau bleiben – er hat Beziehungen zum Lagerältesten dort – der bringt ihm jeden Abend eine Schüssel Extrasuppe – das bedeutet seine tägliche Lebensrettung – solang er im alten Lager bleibt.
PAUL: Und – wie ist das? Er hätte beim Transport mitsollen?
FRANZ: Ja. Und er hat dem Karl vorgeschlagen, Nummer und Namen zu tauschen. So konnten wir beide beisammen bleiben – und der kleine Tscheche bei seinem Lagerältesten und bei seinen Suppen.
PAUL: Da kann noch was Schönes herauskommen.
FRANZ: Der Lagerälteste drüben hat ja davon gewußt und war damit einverstanden.
PAUL: Na und? – Wenn dein Bruder den auch preisgibt, steckt ihr alle vier in der Scheiße.
FRANZ: Mich schreckt nichts.
PAUL: Tu nicht so erhaben – warum? Wartet niemand auf dich zuhaus?
FRANZ (wieder versunken): Mutter, lebst du noch?
MUTTER: Ich bin bei dir, mein Kind, ich bin bei dir – glaub doch nun endlich!
FRANZ (vor sich hin): Mutter! Wenn ich nur wüßte, ob sie noch lebt.
PAUL: Was grübelst du, stiller Narr? Kopf hoch – wir werden ja sehen.
FRANZ: Ja, wir werden sehen.
UNTERSCHARFÜHRER (bringt Karl wieder zurück, stößt ihn in die Baracke): So, du Arschgesicht. Jetzt kannst du weiter darüber nachdenken, ob du der oder jener bist. In fünf Minuten bin ich wieder da und hol mir diesen Vogel wieder ab – dann werden wir sehen, ob er das Zwitschern gelernt hat inzwischen (ab).
SPINOZA: Köstlich – haben Sie ihn gesehen, meine Herren, er benimmt sich hundertprozentig wie ein SS-Mann.
KANT: Ist er auch.
SPINOZA: Es ist doch der Engel!
KANT: Ja – aber sobald und solang er als SS-Mann eingekleidet ist, hat er selber keine Ahnung davon.
SPINOZA: Verstehe ich nicht – (naiv) der SS-Mann muß doch merken, daß er plötzlich dasteht, wie... vom Himmel gefallen: ohne Vergangenheit, ohne eigenes Schicksal – das muß ihm doch auffallen, schließlich und endlich!
KANT: O du meine liebe Einfalt – Benedictus, vergiß dich doch nicht so! (Ungeduldig belehrend) Von uns aus wird er delegiert – von denen aus gesehen ist er natürlich schon längst unten, schon seit soundso viel Jahren, und hat seine Vergangenheit und sein Schicksal, seine Eltern und Großeltern, seine Frau und seine Kinder...
SOKRATES: Wir stehen doch nicht auf einer Ebene mit denen dort, weder räumlich noch zeitlich. Das ist doch nur ein Trick von uns, daß wir uns mit ihnen abgeben – ein Trick für diese Theatervorstellung!
SPINOZA: Aber ihr habt doch gesagt, alles sei wirklich, wirklicher als wirklich: es sei wahr – und nicht bloßes Theater?
KANT: Alles ist Theater – und nichts ist Theater. Wir sind Figuren, da wie dort. Das eine Mal auf einem Bühnenhintergrund, das andere Mal auf einem transzendentalen Hintergrund. Gespielt wird auf jeden Fall.
SOKRATES: Wir wissen nur kaum, was wir spielen. Nicht einmal, was wir spielen. Wir kennen nur ungenau unsere Rolle. Wir sind froh, wenn wir den Text ahnen, den wir zu sprechen haben.
KANT: Und achten, soweit es geht, auf den Souffleur: die Stimme des Gewissens.
MUTTER (inzwischen hinzugetreten, hat den letzten Teil der Debatte angehört; in aller Naivität): Und vor wem spielen wir, meine Herren? Bitte, sagen Sie mir’s!
SPINOZA: Vor einem einfältigen Theaterpublikum – das so einfältig ist, daß es denkt, wir spielen.
SOKRATES: Inzwischen spielen sie: sie spielen die Zuschauer.
KANT: Ja – die spielen immer. Spielen einander ihre Rollen vor, und vor sich selber spielen sie auch.
MUTTER (treuherzig): Aber vor wem spielen wir alle? Es muß doch etwas geben – es muß doch
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