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Trucks. Erzählungen

Trucks. Erzählungen

Titel: Trucks. Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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fünfundzwanzig Zentimeter breit«, sagte er verträumt. »Ich habe ihn selbst gemessen. Ich habe sogar darauf gestanden und mich dabei natürlich am Balkon festgehalten. Sie brauchen nur über das schmiedeeiserne Gitter zu steigen und sich hinunterzulassen. Es wird etwa brusthoch sein. Jenseits des Gitters sind allerdings keine Handgriffe. Sie werden sich Zentimeter um Zentimeter weiterschieben müssen.
    Wie leicht könnten Sie das Gleichgewicht verlieren.«
     
    Mein Blick war an etwas außerhalb des Fensters hängengeblieben... etwas, das meine Körpertemperatur um einige Grade sinken ließ. Es war ein Windmesser. Cressners Wohnung lag nahe am See und so hoch oben, daß es keine höheren Gebäude gab, die den Wind abgehalten hätten. Der Wind würde kalt sein und mir wie mit Messern ins Fleisch schneiden. Die Nadel schwankte um zwei, aber eine plötzliche Bö konnte sie leicht auf fünf oder sechs hochtreiben, und wenn es nur Sekunden dauerte.
    »Ah, ich sehe, Sie haben meinen Windmesser bemerkt«, sagte Cressner aufgeräumt.
    »Der Wind kommt meist von der anderen Seite. Dort werden Sie ihn also stärker spüren.
    Aber der Abend ist ziemlich ruhig. Ich habe hier schon Windstärke zehn erlebt... dann spürt man direkt, wie das Gebäude schwankt. Fast als säße man auf einem Schiff im Mastkorb, Für diese Jahreszeit ist es außerdem ziemlich mild.«
    Er zeigte nach draußen, und ich sah das große Thermometer hoch oben an dem Gebäude einer Bank. Es zeigte sechs Grad, aber der Wind würde den Kältefaktor auf unter Null bringen. »Haben Sie einen Mantel?« fragte ich. Ich trug nur eine leichte Jacke.
    »Leider nein.« Die Zahlen auf dem Thermometer schalteten um und zeigten jetzt die Uhrzeit. Es war acht Uhr zweiunddreißig. »Ich meine, Sie sollten anfangen, Mr. Norris.
    Ich werde Tony anrufen, damit Plan drei anlaufen kann. Er ist ein brauchbarer Mann, aber leider ein wenig impulsiv, verstehen Sie?«
    Ich verstand. Ich verstand nur allzu gut. Aber der Gedanke, bei Marcia zu sein, frei von Cressners Fängen und mit genügend Geld, irgendwas anzufangen, ließ mich die Schiebetür öffnen und auf den Balkon hinaustreten. Es war kalt und Naß, und der Wind blies mir die Haare ins Gesicht. »Bon soir«, sagte Cressner hinter mir, aber ich drehte mich nicht um. Ich trat an das Geländer und vermied es, nach unten zu schauen.
    Vorläufig. Ich atmete rief durch.
    Es ist nicht eigentlich eine Übung, eher eine Art Selbsthypnose. Mit jedem Atemzug entledigt man einer Ablenkung, bis man sich allein auf seine aufgäbe konzentriert. Mit dem ersten Atemzug verwand der Gedanke an das Geld, beim zweiten dachte ich nicht mehr an Cressner. Mit Marcia dauerte es ein wenig länger - immer wieder stieg ihr Bild vor mir auf und sagte mir, wie dumm es sei, dieses Spiel mitzuspielen. Vielleicht betrog Cressner nicht. Vielleicht gewann er nur immer seine Wetten. Ich ließ mich nicht beirren.
    Das konnte ich mir nicht leisten. Wenn ich dieses Spiel verlor, war ich aller Sorgen ledig.
    Dann würde ich als scharlachroter Matsch vor einem Wohnblock in der Deakman Street gleichmäßig in beide Richtungen spritzen.
    Bei dem Gedanken sah ich nach unten.
    Wie ein glatter Kreidefelsen fiel das Gebäude tief unten zur Straße hin ab. Die Wagen, die dort parkten, sahen wie die Matchboxmodelle aus, die man in jedem Supermarkt kaufen kann. Die vorbeifahrenden Wagen waren stecknadelkopfgroße Lichtpunkte. Wenn man so tief stürzte, hatte man genug Zeit, genau zu registrieren, was mit einem geschah. Man würde merken, wie der Wind an der Kleidung zerrt, während die Erde einen immer schneller anzieht. Man würde Zeit zu einem langgezogenen Schrei haben, und man würde mit einem Geräusch aufschlagen, als platzte eine überreife Wasserme-lone.
    Ich konnte gut verstehen, warum der andere Kerl einen Rückzieher gemacht hatte. Aber er hatte sich nur über sechs Monate Sorgen zu machen brauchen. Vor mir lagen vierzig endlose graue Jahre ohne Marcia.
    Ich sah mir den Mauervorsprung an. Er sah schmal aus. Ich hatte nicht gewußt, wie schmal fünfundzwanzig Zentimeter sein können. Wenigstens war das Gebäude ziemlich neu, es würde unter mir nicht wegbröckeln.
    Hoffte ich.
    Ich schwang mich über das Gitter und ließ mich vorsichtig auf den Mauervorsprung herab. Meine Fersen standen über. Der Fußboden des Balkons lag in Brusthöhe, und durch die schmiedeeisern geschwungenen Stäbe sah ich in Cressners Penthouse-Wohnung hinein.
    Er stand in der Tür und

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