Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Trucks. Erzählungen

Trucks. Erzählungen

Titel: Trucks. Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
den Seitenwind. Wenn er mich in einer ungünstigen Stellung erwischte würde ich ganz schnell eine sehr lange Reise machen.
    Ich wartete, daß der Wind nachließ, aber er wehte unvermindert. Es war, als sei er Cressners zuverlässiger Verbündeter. Mit bösartigen unsichtbaren Fingern traf er mich, zerrte an mir und kitzelte. Ein besonders heftiger Windstoß ließ mich auf den Zehen schwanken. Da wußte ich, daß ich bis in alle Ewigkeit warten konnte. Der Wind würde nicht nachlassen.
    Als er bald darauf ein wenig schwächer wehte, glitt ich mit dem rechten Fuß um die Ecke und packte mit jeder Hand eine Wandseite. Der Seitenwind schob mich gleichzeitig in zwei Richtungen, und ich wäre fast getaumelt. Eine Sekunde lang war es mir grauenhaft klar, daß Cressner seine Wette gewonnen hatte. Dann schob ich mich einen Schritt weiter und drückte mich fest an die Wand. Ich stieß den angehaltenen Atem aus. Meine Kehle war trocken.
    In diesem Augenblick kam der Knall. Fast direkt neben meinem Ohr.
    Erschrocken fuhr ich zurück und hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren. Meine Hände lösten sich von der Wand, und ich schlug wild durch die Luft. Wenn ich die Wand getroffen hätte, wäre ich weg gewesen. Es waren nur Bruchteile von Sekunden, aber es schien eine Ewigkeit, bis die Schwerkraft beschloß, mich auf dem Mauervorsprung zu lassen statt mich dreiundvierzig Stockwerke tief auf die Straße zu schleudern.
    Mein Atem hörte sich an wie ein Schluchzen, und meine Lungen pfiffen schmerzhaft.
    Meine Beine waren wie Gummi. Die Sehnen meiner Fußgelenke summten wie Hochspannungsdrähte. Nie hatte ich so intensiv meine Sterblichkeit empfunden. Der Sensenmann war so nahe, daß er mir über die Schulter schauen konnte. Ich verrenkte den Hals und sah nach oben. Einen Meter über mir sah ich Cressner, der sich aus seinem Schlafzimmerfenster lehnte. Er lächelte, und seine rechte Hand hielt einen Sylvesterknaller.
    »Ich wollte Sie nur wachhalten«, sagte er.
    Ich verschwendete keinen Atem auf eine Antwort. Ich hätte ohnehin nur krächzen können. Mein Herz hämmerte wie wild. Ich schob mich etwas über einen Meter weiter, für den Fall, daß er daran dachte, mir einen kräftigen Stoß zu versetzen. Dann blieb ich stehen und schloß die Augen. Wieder atmete ich tief durch, bis ich mich ein wenig beruhigt hatte.
    Ich war an der kurzen Seite des Gebäudes. Zu meiner Rechten lagen nur die höchsten Türme der Stadt noch über mir. Links sah ich das dunkle Rund des Sees, auf dem winzige Lichter schwammen. Der Wind heulte und stöhnte. An der zweiten Ecke war der Seitenwind weniger stark, und ich kam gut herum. Und dann biß mich etwas.
    Ich keuchte und schmiegte mich an die Wand. Ich hatte Angst vor jeder Gewichtsverlagerung. Wieder wurde ich gebissen. Nein, nicht gebissen, sondern gepickt.
    Ich sah nach unten.
    Auf dem Mauervorsprung hockte eine Taube und blickte mich aus hellen haßerfüllten Augen an.
    In der Stadt gewöhnt man sich an Tauben. Sie sind so häufig wie Taxifahrer, die keinen Zehner wechseln können. Sie fliegen nicht gern und gehen nur widerwillig aus dem Weg, als hätten sie ein Anrecht auf die Bürgersteige. O ja, und ihre Visitenkarten findet man gelegentlich auf der Motorhaube seines Wagens. Aber man beachtet sie wenig.
    Manchmal irritieren sie uns, denn in unserer Welt sind sie Eindringlinge.
    Aber ich war jetzt in ihrer Welt und nahezu hilflos. Wieder pickte sie in mein müdes rechtes Fußgelenk, und ein stechender Schmerz schoß in mein Bein.
    »Weg«, knurrte ich. »Hau ab.«
    Die Taube reagierte, indem sie mich wieder pickte. Offenbar befand ich mich in ihrer Wohnung. Dieser Teil des Vorsprungs war mit altem und neuem Taubenmist bedeckt.
    Von oben hörte ich leises Piepsen.
    Ich hob den Kopf und schaute nach oben. Ein Schnabel fuhr auf mein Gesicht zu, und fast hätte ich den Kopf nach hinten geworfen. Hätte ich es getan, wäre ich der erste von Tauben verursachte Todesfall der Stadt gewesen. Es war Mama Taube, die ihre Babys hütete. Sie saßen unter dem leicht vorspringenden Dach. Zu weit oben, als daß sie mich in den Kopf picken könnten.
    Ihr Mann pickte mich wieder, und jetzt floß Blut. Ich spürte es. Ich setzte meinen Weg fort und hoffte, die Taube von dem Vorsprung zu verscheuchen. Fehlanzeige. Tauben sind nicht sehr schreckhaft, jedenfalls Stadttauben nicht. Wenn sie vor einem fahrenden Wagen nur ein paar Schritte zur Seite gehen, kann ein Mann dreiundvierzig Stockwerke hoch auf einem

Weitere Kostenlose Bücher