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Trucks. Erzählungen

Trucks. Erzählungen

Titel: Trucks. Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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rauchte und beobachtete mich, wie ein Wissenschaftler ein Meerschweinchen beobachtet, um festzustellen, wie die letzte Injektion wirken wird.
    »Rufen Sie an«, sagte ich und hielt mich am Gitter fest.
    »Was?«
    »Rufen Sie Toni an. Vorher bewege ich mich keinen Zentimeter.«
    Er ging ins Wohnzimmer zurück - es wirkte erstaunlich warm und geschützt - und nahm den Hörer auf. Es war eigentlich eine sinnlose Geste. Bei dem Wind hörte ich ohnehin nicht, was er sagte. Er legte den Hörer auf die Gabel und kam wieder an feie Tür.
    »Erledigt, Mr. Norris.«
    »Das will ich auch hoffen.«
     
    »Goodbye, Mr. Norris. Ich sehe Sie später... vielleicht.«
    Ich mußte es tun. Geredet war genug. Ich dachte ein letztes Mal an Marcia, an ihr hellbraunes Haar, ihre großen grauen Augen, ihren herrlichen Körper. Dann verdrängte ich endgültig jeden Gedanken an sie. Ich schaute auch nicht mehr nach unten. Der Anblick der grauenhaften Tiefe hätte mich lahmen können. Wie leicht könnte man erstarren, die Balance verlieren oder ganz einfach vor Angst bewußtlos werden. Hier gab es nur noch den Tunnelblick. Es galt sich nur auf eins zu konzentrieren: linker Fuß, rechter Fuß.
    Ich bewegte mich nach rechts und hielt mich solange wie möglich am Balkongitter fest.
    Ich erkannte schnell, daß ich alle Tennismuskeln brauchte, die ich hatte. Da die Fersen überstanden, mußten die Sehnen das ganze Gewicht auffangen. Ich erreichte das Ende des Balkons, und einen Augenblick lang schien es mir unmöglich, den sicheren Halt aufzugeben. Ich mußte mich zwingen, es zu tun. Verdammt, fünfundzwanzig Zentimeter waren genügend Platz. Wäre der Mauervorsprung dreißig Zentimeter statt hundertzwanzig Meter hoch gewesen, wärst du in knapp fünf Minuten um das Gebäude herumgekommen, sagte ich mir.
    Ja, und wenn man in dreißig Zentimeter Höhe von der Mauer abkommt, sagt man Scheiße und versucht es noch einmal. Hier oben hat man nur eine Chance. Ich schob den rechten Fuß weiter und stellte den linken daneben. Ich ließ das Gitter los. Ich legte die Hände an den rauhen Stein des Gebäudes. Ich streichelte den Stein. Ich hätte ihn küssen mögen.
    Ein Windstoß traf mich und peitschte mir den Jackenkragen ins Gesicht. Ich schwankte.
    Das Herz Schlug mir bis in den Hals und blieb in meiner Kehle stecken, als der Wind abflaute. Ein stärkerer Windstoß hätte mich von der Wand gewischt und in die hinausgeschleudert. Und auf der anderen Seite mußte der Wind noch stärker sein.
    Ich drehte den Kopf nach links und drückte die Wange gegen den Stein. Cressner stand auf dem Balkon und beobachtete mich.
    »Macht's Spaß?« fragte er leutselig. Er trug einen braunen Kamelhaarmantel. »Ich dachte, Sie hätten keinen Mantel«, sagte ich. »Ich habe gelogen«, sagte er gleichmütig.,
    »Ich Lüge oft.«
    »Was meinen Sie damit?«
    »Nichts... gar nichts. Aber vielleicht hat es doch etwas zu bedeuten. Ein wenig psychologische Kriegsführung, Mr. Norris. Sie sollten sich nicht zu lange aufhalten. Die Fußgelenke ermüden, und wenn sie nachgeben...« Er nahm einen Apfel aus der Tasche, biß hinein und warf ihn über das Geländer. Man hörte lange Zeit nichts. Dann ein schwaches widerliches Klatschen. Cressner kicherte.
    Er hatte mich in meiner Konzentration gestört, und mit stählernen Zähnen fraß Panik an meinem Verstand. Eine Welle des Entsetzens wollte mich davonspülen. Ich schaute in die andere Richtung und atmete tief. Ich verscheuchte das Gefühl der Panik. Ich sah wieder die erleuchteten Ziffern an der Bank. Es war jetzt acht Uhr sechsundvierzig. Zeit, bei der Mutual Bank etwas auf das Konto einzuzahlen.
    Als die Ziffern auf acht Uhr neunundvierzig standen, hatte ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle. Cressner mußte glauben, ich sei vor Schreck erstarrt, und ich hörte seinen höhnischen Applaus, als ich mich weiter zur Ecke des Gebäudes vorarbeitete.
    Ich fing an, die Kälte zu spüren. Der vom See, aufsteigende Dunst ließ mich den Wind schärfer empfinden. Die Feuchtigkeit drang mir wie mit Nadeln in die Haut. Meine dünne Jacke bauschte sich hinter mir, als ich mich weiterschob. Ich bewegte mich langsam.
    Kalt oder nicht kalt. Ich konnte mich nur langsam bewegen. Hätte ich mich beeilt, wäre ich abgestürzt.
    Die Uhr an der Bank zeigte acht Uhr zweiundfünfzig, als ich die Ecke erreichte. Die Ecke selbst schien kein Problem zu sein - der Vorsprung führte im rechten Winkel um sie herum - aber an meiner rechte Hand spürte ich

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