Trümmermörder
den Thresen und trägt sie mit »Herr und Frau Schmidt« ins Gästebuch ein. Das ist so offensichtlich gelogen, dass der alte, halbblinde Gastwirt missbilligend eine Augenbraue hebt, etwas Unverständliches vor sich hin murmelt, ihnen dann aber einen Schlüssel aushändigt.
Das Zimmer liegt im ersten Stock, klein und einigermaßen sauber, leuchtend im Abendglanz, als wären die Fenstergläser aus Bernstein. Sie nehmen sich kaum die Zeit, die Tür zuzuwerfen und abzuschließen. Dann sinken sie auf das schmale Bett, gierig nach Nähe und Zärtlichkeit. Erst später, als der erste Hunger gestillt ist, werden sie ruhiger, sanfter, neugieriger.
Irgendwann hält Stave Anna im Arm, ihr nackter Körper glänzt im Mondlicht wie Alabaster, doch er spürt ihren Puls, ihren Atem auf seiner Brust, ihre Wärme. Wir leben, denkt er. Wir leben wieder.
Sanft streicht er mit den Fingerkuppen die lange Linie ihres Rückens hinab. »Ich weiß noch immer nichts über dich«, murmelt er.
Sie seufzt, nicht ungehalten, eher spöttisch. »Sie sind gerade nicht im Dienst, Herr Oberinspektor.«
»Ich frage nicht als Polizist, sondern als Liebhaber.«
Anna schüttelt den Kopf. »Lass mir etwas Zeit«, bittet sie. Dann küsst sie ihn. »Man hat uns beiden so viel weggenommen, dass wir fast nichts mehr haben. Außer Zeit. Zeit haben wir genug.«
Er denkt über ihre Worte nach. Als Ermittler hat er niemals genug Zeit. Immer kommt er zu spät, das ist das Wesen der Arbeit, schließlich muss ja erst etwas geschehen sein, bevor man ihn ruft. Immer gibt es danach zu viel zu tun. Immer der Druck, den Verbrecher zu verhaften, bevor der wieder zuschlägt. Aber muss er sein ganzes Leben so führen, als wäre es ein unendlicher Kriminalfall?
»Du hast recht«, flüstert er und fühlt sich plötzlich leicht dabei, heiter, befreit. »Wir haben alle Zeit der Welt.«
Nach Mitternacht schleichen sie aus dem Zimmer. Niemand soll sie morgen ertappen. Der alte Portier schnarcht hinter dem Tresen. Stave legt den Schlüssel behutsam auf das Holz, neben die Glocke, dann drückt er die Tür auf, und sie schlüpfen hinaus in die Nacht.
Staves gelber Polizeiausweis befreit ihn von der Ausgangssperre. Sollte ihn eine Streife der britischen Militärpolizei anhalten, kann er immer sagen, er sei dienstlich unterwegs. Aber ob er auch Anna mit so einer Schutzbehauptung decken könnte? Oder würden die MPs sie verhaften? Lieber nicht darauf ankommen lassen. Und so führt er sie auf Nebenwegen Richtung Eilbek. Das Mondlicht überzieht die Stadt mit silbrigem Glanz. Die vernarbten Wände und leeren Fensterhöhlen sehen plötzlich aus wie antike Ruinen: Das riesige Trümmerfeld verwandelt sich in eine Stadt der Göttertempel und der Foren, der Amphitheater und Paläste. Die Luft ist noch immer mild, doch die in Monaten gespeicherte Kälte quillt aus dem Boden. Stave hat seinen Mantel um Anna und sich gelegt, sie schlendern umschlungen auf schmalen Pfaden zwischen Mauerresten dahin. Er atmet glücklich ihren Duft ein.
Sein Sohn lebt. Er hat eine neue Liebe gefunden. Der Winter ist vergangen. Plötzlich spürt er überall einen neuen Anfang, spürt dieses unverdiente, kolossale Glück, davongekommen zu sein. Ein neuer Anfang. Ein neues Leben. Glück, das ihn fast erstickt, das hinaus will aus seinem Körper, er würde am liebsten schreien und tanzen wie ein Verrückter. Das wäre in einer schweigenden Stadt unter Ausgangssperre allerdings nicht gerade das Klügste, was er machen könnte. Doch diese Stille und seinen Überschwang nutzt er auf andere, angenehme Weise. Er bleibt stehen, zieht Anna zu sich heran und küsst sie leidenschaftlich, mitten auf der Straße.
Als sie sich endlich wieder voneinander lösen, lächelt sie ihn verwirrt an, außer Atem, doch sie fragt ihn nicht nach dem Warum.
Schließlich erreichen sie die Nissenhütten, die schwarz am Wegesrand liegen wie die leeren Panzer von Riesenschildkröten. Sie wagen kaum zu atmen, während sie die letzten Meter zurücklegen, um keinen Lärm zu machen. Hier trennen sie nur ein paar Millimeter Wellblech von hundert Augen und Ohren. An der Tür zu ihrer Baracke küssen sie sich zum Abschied. Stave kritzelt seine Adresse auf ein Blatt seines Notizheftes, reißt es heraus und steckt es ihr zu.
»Ich komme morgen Abend bei dir vorbei«, flüstert Anna. Dann schlüpft sie lautlos durch die Tür und veschwindet im düsteren Innern der Nissenhütte.
Stave schleicht sich vorsichtig davon, bis er glaubt, weit genug
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