Trümmermörder
antwortet Stave.
Das Museum hatte schon kurz nach dem Krieg seine Pforten wieder geöffnet. Die Sammlung hatte die Bombenjahre teils in Banktresoren, teils im Bunker auf dem Heiligengeistfeld überstanden. Zumindest der Teil, den die braunen Machthaber nicht als »entartet« denunziert und billig ins Ausland verkauft hatten. Doch im Winter konnte niemand mehr die großen Säle heizen, zumal das Dach von wenigen Bombentreffern an einer Stelle beschädigt und nur notdürftig geflickt worden war. Also war die Kunsthalle geschlossen worden – doch an diesem warmen Tag ist der Beginn der neuen Saison.
Die meisten Menschen aber genießen das Sonnenlicht, kaum jemand kommt auf die Idee, die kostbaren Tagesstunden unter einem Dach zu verbringen. Deshalb haben Stave und Anna von Veckinhausen das Museum fast für sich allein. Er genießt es, mit ihr von Raum zu Raum zu schlendern. Einige Mauern sind dunkel von eingedrungenem Wasser, manche Räume sind verdächtig leer, vor allem die mit moderner Kunst. Trotzdem flanieren sie an Meisterwerken vorbei, langsam, genüsslich. Was gefällt mir besonders gut?, fragt sich Stave und gibt sich selbst die Antwort: die Farben. Die Ölbilder und Aquarelle, das Blau und Rot, das Gelb und Grün, das Gold der Alten Meister – wie erholsam für das Auge nach dem Grau und Schwarz der Trümmer, dem Braun der Kleidung. Anna von Veckinhausen ist noch immer bei ihm eingehakt. Er weiß nicht, an was sie gerade denkt. Keiner der beiden redet.
Schließlich erreichen sie den Saal mit den Bildern von Caspar David Friedrich. Stave starrt auf die fantastischen Landschaften, auf die kleinen Figuren darin, Frauen in Hauben, Männer in altdeutscher Tracht, alle haben dem Betrachter den Rücken zugewandt. Er betrachtet lange das Bild ›Eismeer‹, auf dem monströse Eisplatten ein Schiff zermalmen. Früher hat er das für unrealistisch gehalten – nach diesem Winter nicht mehr. Vor Jahren ist er das letzte Mal hier gewesen. Mit Margarethe. Er verdrängt die Erinnerung rasch.
Stave deutet auf die Bilder. »Sie sind kaum mehr als einhundert Jahre alt. Doch mir kommen sie wie Relikte eines anderen Zeitalters auf einem anderen Kontinent vor.«
»Das sind sie auch. Nichts von dem, was Friedrich sah, existiert heute noch. Nichts von dem, was er glaubte, wird heute noch geglaubt.«
»Aber die Werke hängen noch an der Wand. Und Menschen kommen hierhin, um sie zu betrachten. Wie wir.«
»Weil wir uns nach dieser Zeit sehnen. Weil wir spüren, dass wir etwas verloren haben, aber nicht benennen können, was es ist.«
»Das wiederum hätte Caspar David Friedrich gefallen.«
»Es wäre das Einzige gewesen. Er hat Ruinen in Wälder und Berge hineingetupft. Würde er heute die echten Ruinen sehen, ihm würde der Geschmack an Fensterhöhlen und Mauerresten vergehen.«
Sie legt ihren freien Arm vor die Brust und schaudert. »Ich möchte raus«, murmelt sie. »An die Sonne.«
Vom Ausgang ist es nur ein Sprung über die breite Straßenschneise des Glockengießerwalls zur Binnenalster. Der zum großen Viereck aufgestaute Fluss spiegelte vor dem Krieg die Renommierfassaden Hamburgs – der Jungfernstieg, wo der Psychologe seine Praxis hat, liegt dem Glockengießerwall gegenüber. Bäume am Ufer, Promenaden, dahinter die wuchtigen Fassaden imposanter Reedereizentralen, über den glänzenden Dächern die Nadeln der berühmtesten Kirchen der Stadt: Hier flanierten die Hamburger vor dem Krieg im Sonntagsstaat – und hier flanieren sie wieder, tapfer die Narben in den Fassaden und ihre abgetragenen Kleider ignorierend.
Vorsichtig schreiten er und seine Begleiterin über die provisorischen Bahngleise am Ballindamm hinweg, umgehen zwei vergessene, leere Loren, mit denen Arbeiter bis zum Beginn des Winters Bauschutt aus der Stadt bis an die Alster schafften und ins Wasser kippten. Das Eis auf der Alster glitzert nicht mehr, sondern ist unter der Sonne weiß und wässrig geworden, wie gestreckte Milch. Doch das ist nur die Oberfläche. Darunter ist es noch massiv, drei Meter dick. Einige Unverdrossene drehen Kreise darauf, sodass Wasser von den Kufen ihrer Schlittschuhe spritzt. Die meisten Flaneure jedoch bleiben am Ufer, als wäre es nun unschicklich, das Eis zu betreten.
Stave fröstelt. Die Kühle, die von der Alster hochkommt, erinnert ihn ans Leichenschauhaus. Aber er will sich den Mantel, den er über den freien Arm und die an den Schnürsenkeln zusammengebundenen Winterschuhe geworfen hat, nicht anziehen.
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