Sterntaler: Thriller (German Edition)
ALS DER FILM ANFÄNGT , HAT sie keine Ahnung, was sie zu sehen bekommen wird. Ebenso wenig weiß sie, welche schrecklichen Konsequenzen für ihr weiteres Leben der Film und die Entscheidungen haben, die sie hinterher treffen wird.
Sie hat den Projektor auf den Sofatisch gestellt. Die Leinwand hat sie aus der Abstellkammer hervorgekramt und mitten im Zimmer aufgestellt. Damit der Projektor im richtigen Winkel steht, hat sie ein Buch unter den vorderen Teil des Apparats gelegt. Es ist Ira Levins »Der Kuss vor dem Tode«. Sie hat es von einer Freundin zu Weihnachten geschenkt bekommen und sich immer noch nicht getraut, es zu lesen.
Der Projektor zieht den Film ein, und es klingt wie Hagel, der gegen eine Fensterscheibe schlägt. Im Zimmer ist es dunkel, sie ist allein. Warum hat dieser Film sie neugierig gemacht? Sie kann es sich nicht erklären; vielleicht weil sie sich nicht daran erinnern kann, ihn schon einmal gesehen zu haben. Oder weil sie spürt, dass dieser Film nicht ohne Grund vor ihr versteckt worden ist.
Das erste Bild zeigt einen Raum, der ihr bekannt vorkommt. Das Licht ist gedämpft, das Bild nicht ganz scharf. Vor die Fenster des Raumes sind Tücher gehängt; trotzdem findet das Tageslicht seinen Weg hinein. Es sind viele Fenster, und sie scheinen bis zur Decke zu reichen. Der Film läuft weiter, das Bild wird klarer. Eine Tür geht auf, eine junge Frau ist zu sehen. Sie zögert auf der Schwelle, scheint etwas zu sagen. Sie sieht in Richtung Kamera und lächelt unsicher. Das Bild hüpft. Offensichtlich steht die Kamera nicht auf einem Stativ. Jemand scheint sie in der Hand zu halten.
Die Frau betritt das Zimmer und drückt die Tür hinter sich zu.
Als die Tür sich schließt, erkennt sie endlich, wo der Film aufgenommen wurde: im Gartenpavillon ihrer Eltern. Ohne zu wissen, warum, hat sie plötzlich Angst. Sie will den Projektor ausschalten, schafft es aber nicht.
Dann geht die Tür des Pavillons erneut auf, und ein maskierter Mann tritt ein. Er hält eine Axt in der Hand. Als die Frau ihn erblickt, schreit sie und weicht zurück. Sie verschwindet in einem der Tücher, doch der Mann packt sie, damit sie nicht durchs Fenster in den Garten fällt. Er zieht sie in die Mitte des Raumes. Die Kamera wackelt ein wenig.
Dann kommen Bilder, die sie nicht versteht. Der Mann schwingt seine Axt und schlägt sie in die Brust der Frau. Einmal, zweimal. Einmal gegen den Kopf. Dann macht er mit einem Messer weiter und… o mein Gott… Sie liegt leblos auf dem Boden.
Der Film läuft noch ein, zwei Sekunden, dann ist er vorbei. Der Projektor schnattert ungeduldig und verlangt, dass sie ihn ausschaltet und den Film in die Kassette zurückspult.
Doch das kann sie nicht. Ihr Blick bleibt auf die Leinwand geheftet. Was hat sie da gesehen?
Mit steifen Fingern schaltet sie den Projektor ab. Spult den Film zurück. Spielt ihn noch einmal ab. Und noch einmal.
Sie ist sich nicht sicher, ob er echt ist, doch das ist eigentlich ohne Bedeutung. Der Inhalt ist widerlich, und den Mann hinter der Maske hat sie bereits beim zweiten Ansehen erkannt.
Wann wurde er aufgenommen? Wer ist die Frau? Und wo waren ihre Eltern, als jemand in ihren Gartenpavillon eindrang, Tücher vor sämtliche Fenster hängte und dort einen Gewaltfilm drehte?
Es wird Abend, ehe sie einen Entschluss fasst. Sie hat mehr Fragen als Antworten, doch das ändert nichts mehr. Als er den Schlüssel in die Tür steckt und »Hallo, Liebling!« ruft, hat sie sich längst entschieden.
Sie wird nie wieder irgendjemandes Liebling sein.
Und ihr Kind wird niemals einen Vater haben.
Jetzt
2009
aus der Vernehmung des Zeugen ALEX RECHT , 01.05.2009
»Ich habe mehr als mein halbes Leben als Polizist gearbeitet. Das hier ist definitiv der widerlichste Fall, mit dem ich je auch nur im Entferntesten zu tun hatte. Es ist ein Albtraum, ein Inferno des Bösen. Ein Märchen ohne Happy End.«
Dienstag
1
ALS JÖRGEN ZUM ERSTEN MAL einen toten Menschen sah, war die Sonne noch nicht einmal eine Stunde am Himmel. Die andauernden Schneefälle des Winters und all die Regenschauer des Frühjahrs hatten die Erde aufgeweicht und die Bäche steigen lassen. Wind und Wetter hatten sich mit vereinten Kräften durch eine Schicht Erde nach der anderen gearbeitet, die die Leiche bedeckte, und schließlich hatte sich zwischen Steinen und Bäumen ein kleiner Krater gebildet.
Dennoch war die Leiche nicht offen sichtbar gewesen. Der Hund war es, der sie ausgrub. Und Jörgen stand
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