TS 15: Der Unheimliche
fuhr herum und packte sie am Arm.
„Sie waren es, die geschrien hat?“ sagte er erregt.
Martha nickte. „Ja, Paul. Ich habe geschrien.“
„Sie – Sie waren aber nicht auf der Straße?“
„Nein. Ich war zu Hause. Weit weg.“
„Und Sie haben mich dennoch gesehen?“ fragte er und konnte sich kaum noch beherrschen.
Mit sanftem Zwang löste sie seine Hand, die sich in ihren Arm gekrallt hatte. „Paul, .seit acht Jahren habe ich Sie gesehen und gehört. Seit dem Tag, an dem Sie nach Washington kamen und an meinem Klappenschrank vorbeigingen.“
„Martha“, flüsterte er, „was sind Sie?“
Sie lächelte ihn an. „Dasselbe wie Sie, Paul. Oder nahezu dasselbe.“ Sie zeigte auf die Tapetenleiste. „Ich wußte nichts von den Mikrophonen. Und ich kann auch nicht die Zuleitungen unterbrechen, wie Sie es eben taten.“
„Aber Sie haben meine Gedanken gelesen? Auch jetzt?“
„Selbstverständlich. Die ganze Zeit hindurch.“ Sie trat einen Schritt zurück. „Und jetzt, Paul, täten Sie gut daran, die Mikrophone wieder einzuschalten und die Korken knallen zu lassen. Sonst könnte jemand Argwohn schöpfen.“
„Aber ich möchte …“
„Nicht jetzt“, schnitt sie ihm das Wort ab. „Wir müssen so tun, als ob wir nichts gemerkt hätten. Korkenknallen und Gläserklirren, bitte.“
Zögernd schloß er für einen Moment die Augen und stellte die Verbindung zu den Mikrophonen wieder her. Dann schob er eine Buchattrappe zur Seite; dahinter kam die spiegelglänzende Bar zum Vorschein. Sie ließ einen angemessenen Ausruf des Erstaunens hören und sagte ihm, was und wieviel er ihr eingießen sollte.
„Leider habe ich kein Eis“, sagte er. „Macht es Ihnen etwas aus?“
„Durchaus nicht. Sie haben es wirklich nett hier.“ Martha stieß mit ihm an und überraschte ihn ein zweites Mal. „Es ist doch gar nicht notwendig, daß Sie die Worte aussprechen, Sie Dummkopf. Wozu haben Sie einen Kopf, mit dem Sie Gedanken lesen und senden können?“ Kein Wort war über ihre Lippen gekommen, als sie es zu ihm sagte.
Paul starrte sie mit offenem Mund an. „Aber ich … ich habe noch nie daran gedacht! Was ist los mit mir?“
„Sie sind ganz einfach nicht daran gewöhnt, wie ich es bin. Sie haben ja bisher keine Gelegenheit gehabt, sich in dieser Art zu unterhalten.“
„Und Sie haben Gelegenheit gehabt? Wie?“
„Ich habe zwei Brüder, Paul. Sie sind wie ich. Beide sind Telepathen. Mit Ihnen sind wir jetzt vier.“
„Hol’s der Teufel“, sagte er laut.
„Oh“, versuchte sie, ihn vor den Mikrophonen zu decken, „haben Sie etwas verschüttet?“ Martha zwinkerte ihm zu und zeigte auf die Tapetenleiste.
„Wo sind sie?“ wollte er wissen.
„Im Augenblick sind sie zu Hause. Auf den Inseln.“ Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn zur Couch. „Sie sollen nicht so viele Fragen stellen, Paul. Schauen Sie in meine Gedanken. Sie liegen vor Ihnen wie ein offenes Buch.“ Sie drückte ihn auf die Polster nieder und setzte sich neben ihn. „Schauen Sie …“
Paul lehnte sich zurück und schloß die Augen.
Sie waren zu fünft in der Familie. Martha, ihre beiden Brüder, ihr Vater und ihre Mutter. Die Kinder waren telepathisch; die Eltern waren es nicht. Ihre eigentliche Heimat war Westindien, eine winzige Insel in der Nähe von St. Vincent’s Island, weit ab von allen Schiffahrtswegen. Ihre Eltern waren britische Untertanen.
Für alle, die sich dafür interessierten, hatte Martha sich eine zweite Vergangenheit und einen zweiten Wohnsitz in Savannah im Staate Georgia zugelegt, die sogar den Nachforschungen des CIC standgehalten hatten. Sie war aus dem gleichen Grund nach Washington gekommen, aus dem ihre Brüder nach London und Kapstadt gegangen waren; andere zu finden, die waren wie sie selbst. Paul war der erste und einzige, den sie bisher entdeckt hatten. Ganz bewußt hatte Martha sich beim CIC beworben, weil sie angenommen hatte, daß ein Telepath früher oder später in dessen Hände fallen würde; eine Annahme, die sich in Pauls Fall bestätigt hatte. Sie hatte aber noch aus einem anderen Grunde und darum um so eifriger gesucht. Ihre Brüder konnte sie nicht heiraten, und mit einem Mann, der nicht so war wie sie, wollte sie nicht verheiratet sein.
Warum aber hatte sie dann volle acht Jahre gewartet, bis sie sich zu erkennen gab?
Weil ihre Brüder zur Vorsicht gemahnt hatten. Paul war praktisch ein Gefangener des CIC. Sie und ihre Brüder hingegen waren frei. Acht Jahre lang hatte sie
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