TS 27: Verpflichtet für das Niemandsland
nicht, du warst nur ein Rädchen in unserer Maschinerie.“
„Ich sehe noch immer nicht ein, weshalb er sterben soll.“
„Überlasse das Denken denjenigen, die es können. Du hast ein Lächeln, eine gewisse Art mit Männern. Ich werde denken! Ich denke, daß Temple sterben soll.“
„Ich nicht“, sagte Sophia.
„Wir zögern es nur nutzlos hinaus. Der Mann stirbt.“ Charles hob die Pistole. Er war so sehr ergrimmt, daß er gar nicht mehr an seinen Plan mit dem Selbstmord dachte.
Ein Abstand von acht oder neun Fuß trennte die beiden Männer. Es hätte ebensogut die Unendlichkeit sein können – und sie würde es auch bald sein – für Temple. Er sah, wie Charles Hand sich fest um den Griff der Pistole klammerte, sah, wie der Zeigefinger am Abzug weiß wurde. Die Waffe zeigte auf einen Punkt gerade oberhalb seines Nabels, und Temple fragte sich einen Augenblick lang, was für ein Gefühl es wohl sein mochte, wenn eine Kugel in seinen Bauch einschlagen und sich einen Weg hindurch bis zu seinem Rückgrat bahnte. Er beschloß, wenn er schon nichts anderes tun konnte, den Anfang zu machen. Er würde Charles anspringen.
Sophia kam ihm zuvor. Und weil Sophia genau wie Lucy aussah und Temple immer noch nicht ganz glauben konnte, daß Lucy tot war, schien es das Allernatürlichste in der Welt. Schnell wie eine Katze sprang Sophia auf Charles Rücken, und sie gingen zusammen in einem Gewirr von um sich schlagenden Armen und Beinen auf den Boden. Temple wartete nicht auf eine Einladung. Er sprang auf sie zu, und dann geschah alles wahnsinnig schnell.
Sophia rollte sich zur Seite, erhob sich keuchend auf Händen und Füßen, Charles setzte sich fluchend auf und fuhr über sein schlimm zerkratztes Gesicht. Temple sprang auf ihn zu, warf ihn erneut auf den Rücken und schlug mit geballten Fäusten in sein Gesicht.
Charles hatte die Pistole nicht, aber auch Temple nicht.
Irgend etwas schlug heftig gegen Temples Hinterkopf, schleuderte ihn von Charles weg und ließ ihn zur Seite taumeln. Verschwommen sah er Sophia ihm nachkommen, die Pistole in der Hand mit dem Griff voran. Temples Sinne schwanden. Er versuchte, sich zu erheben, aber es gelang ihm nur halb, ehe er zusammensank. Er schwankte zwischen Bewußtsein und Bewußtlosigkeit und hörte wie im Traum Gesprächsfetzen.
„Erschieße ihn … erschieße ihn …!“
„Halte den Mund … Ich habe die Pistole … Gehe zum Teufel!“
„… erschießen … einzige Möglichkeit.“
„Ich bin anderer Ansicht … von hier weg … später besprechen.“
„… fühle.“
„Ich sagte, von hier weg …“
Die Stimmen wurden zu dem Rauschen eines Flusses, der in einen dunklen Abgrund stürzte.
Jetzt saß Temple mit einem zu einem Drittel gefüllten Glas Whisky in der Hand da und fuhr ab und zu an die aufgeschürfte Schwellung an seinem Kopf. Ein Hahnrei zu sein, war schon schlimm genug, aber ein naiver, politischer Hahnrei zu sein, der in Wirklichkeit gar keiner ist, sagte er zu sich selbst, ist noch schlimmer. Mit seiner Frau zu leben, die Mahlzeiten zu essen, die sie für ihn gekocht hat, mit ihr zu reden, zu glauben, sie verstände ihn, fühle mit ihm, sie von Leidenschaft erfüllt in den Armen zu halten, während sie auf diese Regungen nur im Spiel für ein Gehalt von 100 000 Dollar reagierte, war plötzlich das Schlimmste, was Temple sich auf dieser Welt vorstellen konnte. Er hatte nicht fragen wollen, wie lange dies schon so gehe. Es war vielleicht besser, wenn er es nie erfuhr. Irgendwo im Gewirr seiner Gedanken verloren war die grimmigste und krasseste Realität all dieser Dinge: Lucy war tot. Lucy – tot. Aber wann war Lucy aus seinem Leben ausgeschieden und Sophia eingetreten? War Lucy an jenem Abend tot, als sie mehr als nur ein wenig angetrunken von Chambers Party kamen, an jenem Abend, als sie im Salon tanzten, bis das Morgengrauen die Sterne verblassen ließ und er Lucy hinauf in das Schlafzimmer trug; Lucy oder Sophia? Und der Tag, an dem sie im Wagen zum kleinen, verschwiegenen See fuhren und von all den Dingen träumten, die sie unternehmen könnten, wenn erst der Kalte Krieg zu Ende war – Lucy oder Sophia? Hatte er je einen Unterschied in der Art bemerkt, wie Lucy-Sophia kochte, in der Weise, wie sie sprach, in der Art, wie sie sich von ihm lieben ließ? Er grübelte und grübelte, bis er glaubte, sein Kopf müsse platzen, und dennoch fand er keine Antwort auf all die Fragen. Auf diese Weise war wenigstens der Verlust seiner Frau nicht so
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