Tschick (German Edition)
im selben, abgewrackten Hemd zur Schule, beteiligte sich nicht am Unterricht, sagte immer «Ja» oder «Nein» oder «Weiß nicht», wenn er aufgerufen wurde, und störte nicht. Er freundete sich mit niemandem an, und er machte auch keinen Versuch, sich mit jemandem anzufreunden. Nach Alkohol stank er die nächsten Tage nicht mehr, und trotzdem hatte man immer, wenn man in die letzte Reihe guckte, den Eindruck, er wäre irgendwie weggetreten. So zusammengesunken, wie er dasaß mit seinen Schlitzaugen, da wusste man nie: Schläft der, ist der hacke, oder ist der einfach nur sehr lässig?
So ungefähr einmal die Woche roch es dann aber doch wieder. Nicht so schlimm wie am ersten Tag, aber immerhin. Es gab auch bei uns in der Klasse Leute, die schon mal einen Vollrausch gehabt hatten – ich gehörte nicht dazu –, aber dass einer morgens besoffen in die Schule kam, war neu. Tschick kaute dann stinkendes Pfefferminzkaugummi, daran konnte man immer erkennen, was Phase war.
Sonst wusste man nicht viel über ihn. Dass da einer von der Förderschule ins Gymnasium kam, war ja absurd genug. Und dann noch diese Klamotten. Aber es gab auch Leute, die ihn verteidigten, die meinten, dass er in Wirklichkeit gar nicht dumm war. «Jedenfalls garantiert nicht so dumm wie Kallenbach», behauptete ich irgendwann, denn ich war einer von diesen Leuten. Aber ich verteidigte ihn, ehrlich gesagt, auch nur, weil Kallenbach gerade dabeistand, der mir auf die Nerven ging. Aus Tschicks Redebeiträgen konnte man wirklich nicht schließen, ob er dumm oder klug war oder irgendwas dazwischen.
Und natürlich gab es auch Gerüchte über ihn und seine Herkunft. Tschetschenien, Sibirien, Moskau – war alles im Gespräch. Kevin meinte, Tschick würde mit seinem Bruder irgendwo hinter Hellersdorf in einem Campingwagen wohnen, und dieser Bruder wäre ein Waffenschieber. Jemand anders wusste, dass er ein Frauenhändler war, und es war die Rede von einer 40-Zimmer-Villa, in der die Russenmafia Orgien feierte, und wieder jemand anders behauptete, Tschick würde in einem dieser Hochhäuser Richtung Müggelsee wohnen. Aber, ehrlich gesagt, das war alles Gewäsch, und das kam nur zustande, weil Tschick selbst mit fast niemandem redete. Und so geriet er langsam wieder in Vergessenheit. Oder jedenfalls so sehr in Vergessenheit, wie man geraten kann, wenn man täglich in demselben schlimmen Hemd und einer billigen Jeans erscheint und auf dem Platz des Klassentrottels sitzt. Die Schuhe aus toten Tieren immerhin wurden irgendwann durch weiße Adidas ersetzt, von denen auch sofort wieder jemand wusste, dass sie frisch geklaut waren. Und vielleicht waren sie auch frisch geklaut. Aber die Zahl der Gerüchte nahm nicht mehr weiter zu. Man erfand nur noch den Spitznamen Tschick, und für alle, denen das zu einfach war, hieß er der Förderschüler , und dann war das Russenthema erst mal durch. Jedenfalls in unserer Klasse.
Auf dem Parkplatz dauerte es etwas länger. Auf diesem Parkplatz vor der Schule standen morgens die Oberstufenschüler, und da gab es ein paar, die schon Autos hatten, und die fanden diesen Mongolen wahnsinnig interessant. Typen, die fünfmal sitzengeblieben waren und in der offenen Fahrertür von ihrem Auto lehnten, damit auch jeder sehen konnte, dass sie die Besitzer dieser getunten Schrottkarren waren, und die machten sich über Tschick lustig. «Wieder hacke, Iwan?» Und das jeden Morgen. Besonders ein Typ mit einem gelben Ford Fiesta. Ich wusste lange nicht, ob Tschick das mitkriegte, dass die ihn meinten und dass sie über ihn lachten, aber irgendwann blieb er einmal stehen. Ich war gerade damit beschäftigt, mein Fahrrad anzuschließen, und ich hörte, wie sie laut Wetten abschlossen, ob Tschick die Tür zum Schulgebäude treffen würde, so wie er schwankte – sie sagten: Wie der Scheißmongole schwankt –, und da blieb Tschick stehen und ging zum Parkplatz zurück und auf die Jungs zu. Die alle einen Kopf größer und ein paar Jahre älter waren als er und die wahnsinnig grinsten, wie der Russe da jetzt ankam – und an ihnen vorbeiging. Er steuerte gleich auf den Ford-Typen zu, der der Lauteste von allen war, legte die Hand auf die Fahrertür und redete mit ihm so leise, dass niemand sonst ihn hören konnte, und dann verschwand langsam das Grinsen aus dem Gesicht vom Ford-Typen, und Tschick drehte sich um und ging in die Schule. Von dem Tag an riefen sie ihm nichts mehr hinterher.
Ich war natürlich nicht der Einzige, der das
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