Tschick (German Edition)
beobachtet hatte, und danach verstummten die Gerüchte nicht mehr, dass Tschicks Familie wirklich die russische Mafia wäre oder so was, weil, es konnte sich keiner vorstellen, wie er es sonst geschafft hatte, dem Ford-Spacko mit drei Sätzen komplett den Stecker zu ziehen. Aber logisch war das Quark. Mafia, völliger Quark. Das dachte ich jedenfalls.
10
Zwei Wochen danach kriegten wir die erste Arbeit in Mathe zurück. Strahl malte immer erst mal den Klassenspiegel an die Tafel, um einem Angst zu machen. Diesmal war eine Eins dabei, das war ungewöhnlich. Strahls Lieblingssatz lautete: Einsen gibt’s nur für den lieben Gott. Das Grauen. Aber Strahl war eben Mathelehrer und endgestört. Es gab zwei Zweien, Unmengen Dreien und Vieren, keine Fünf. Und eine Sechs. Ich machte mir ein bisschen Hoffnungen auf die Eins, Mathe war das einzige Fach, in dem ich ab und zu mal einen Treffer landete. Aber dann hatte ich eine Zwei minus. Immerhin. Bei Strahl war eine Zwei minus fast eine Eins. Ich drehte mich unauffällig um, wo der Jubelschrei wegen der Eins zu hören sein würde. Aber niemand jubelte. Weder Lukas noch Kevin, noch die anderen Mathecracks. Stattdessen nahm Strahl das letzte Heft in die Hand und brachte es persönlich zu Tschichatschow in die letzte Reihe. Tschick saß da und kaute wie verrückt Pfefferminzkaugummi. Er guckte Strahl nicht an und stellte nur das Kauen und Atmen ein. Strahl beugte sich hinunter, befeuchtete seine Lippen und sagte: «Andrej.»
Es gab fast keine Reaktion. Eine winzige Kopfdrehung wie ein Gangster im Film, der hinter sich das Klicken eines Gewehrhahns hört.
«Deine Arbeit. Ich weiß nicht, was das ist», sagte Strahl und stützte eine Hand auf Tschicks Tisch. «Ich meine, wenn ihr das noch nicht gehabt habt an deiner alten Schule – du musst das nachholen. Du hast ja überhaupt nicht – du hast es ja nicht mal versucht. Was da steht», Strahl blätterte das Heft auf und senkte die Stimme, aber man konnte ihn doch noch verstehen, «diese Scherze – ich meine, wenn ihr den Stoff nicht hattet, ich merke mir das natürlich. Ich musste Sechs drunterschreiben, aber die steht sozusagen in Klammern. Ich würde sagen, du wendest dich mal an Kevin oder an Lukas. Lässt du dir von denen das Heft geben. Der Stoff der letzten zwei Monate. Und auch, wenn du Fragen hast. Weil, so wird das sonst hier nichts.»
Tschick nickte. Er nickte wahnsinnig verständnisvoll, und dann passierte es. Er fiel vom Stuhl, direkt vor Strahls Füße. Strahl zuckte zusammen, und Patrick und Julia sprangen auf. Tschick lag wie tot auf dem Boden.
Wir alle hatten diesem Russen ja einiges zugetraut, aber nicht, dass er vor Sensibilität vom Stuhl kippt wegen einer Sechs in Mathe. Wie sich dann schnell rausstellte, war es auch gar nicht die Sensibilität. Er hatte den ganzen Morgen nichts gegessen, und das mit dem Alkohol war offensichtlich. Im Sekretariat kotzte Tschick noch das Waschbecken voll und wurde dann mit Begleitung nach Hause geschickt.
Sein Ruf verbesserte sich dadurch nicht wirklich. Was das für Scherze gewesen waren, die er statt der Mathearbeit in sein Heft gemalt hatte, blieb unklar, und wer die Eins hatte, weiß ich auch nicht mehr. Aber was ich noch immer weiß und wahrscheinlich niemals vergessen werde, das ist Strahls Gesicht, als ihm dieser Russe vor die Füße kippte. Alter Finne.
Das Irritierende an dieser ganzen Geschichte war aber nicht, dass Tschick vom Stuhl kippte oder dass er eine Sechs schrieb. Das Irritierende war, dass er drei Wochen später eine Zwei hatte. Und danach wieder eine Fünf. Und dann wieder eine Zwei. Strahl drehte fast durch. Er redete irgendwas von «Stoff gut nachgeholt» und «jetzt nicht nachlassen», aber jeder Blinde konnte sehen, dass die Zweien nichts damit zu tun hatten, dass Tschick den Stoff nachgeholt hatte. Es hatte einfach nur was damit zu tun, dass er manchmal hacke war und manchmal nicht.
So langsam kriegten das natürlich auch die Lehrer mit, und ein paarmal wurde Tschick ermahnt und nach Hause geschickt. Es gab auch Gespräche mit ihm hinter den Kulissen, aber die Schule unternahm erst mal nicht viel. Immerhin hatte Tschick ein schweres Schicksal oder so was, und weil nach dem PISA-Test sowieso jeder beweisen wollte, dass auch asige, besoffene Russen auf einem deutschen Gymnasium eine Chance haben, gab es keine richtige Strafe. Nach einer gewissen Zeit beruhigte sich dann die Lage. Was mit Tschick los war, wusste zwar noch immer keiner. Aber er
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