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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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kam in den meisten Fächern einigermaßen mit. Er kaute immer weniger Pfefferminzkaugummi im Unterricht. Und er störte kaum noch. Wenn er nicht ab und zu seine Aussetzer gehabt hätte, hätte man vielleicht sogar vergessen, dass er da war.

11
    «Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ‹Sie haben sich gar nicht verändert.› – ‹Oh›, sagte Herr K. und erbleichte. Das war ja mal eine angenehm kurze Geschichte.» Kaltwasser klappte im Vorbeigehen die Tafel auf, zog das Jackett aus und warf es über seinen Stuhl. Kaltwasser war unser Deutschlehrer, und er kam immer ohne Begrüßung in die Klasse, oder zumindest hörte man die Begrüßung nicht, weil er schon mit Unterricht anfing, da war er noch gar nicht durch die Tür. Ich muss zugeben, dass ich Kaltwasser nicht ganz begriff. Kaltwasser ist neben Wagenbach der Einzige, der einen okayen Unterricht macht, aber während Wagenbach ein Arschloch ist, also menschlich, wird man aus Kaltwasser nicht schlau. Oder ich werde nicht schlau aus ihm. Der kommt rein wie eine Maschine und fängt an zu reden, und dann geht es 45 Minuten superkorrekt zu, und dann geht Kaltwasser wieder raus, und man weiß nicht, was man davon halten soll. Ich könnte nicht sagen, wie der zum Beispiel privat ist. Ich könnte nicht mal sagen, ob ich ihn nett finde oder nicht. Alle anderen sind sich einig, dass Kaltwasser ungefähr so nett ist wie ein gefrorener Haufen Scheiße, aber ich weiß es nicht. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass er auf seine Weise ganz okay ist, außerhalb der Schule.
    «Angenehm kurz», wiederholte Kaltwasser. «Und da haben sich sicher einige gedacht, so kurz kann ich das auch mit der Interpretation halten. Aber dann dürfte wohl klargeworden sein: So einfach ist das nicht. Oder fand es jemand sehr einfach? Wer will denn mal? Freiwillige? Na, kommt. Die letzte Reihe lacht mich an.» Wir folgten Kaltwassers Blick zur letzten Reihe. Dort lag Tschick mit dem Kopf auf dem Tisch, und man konnte nicht genau erkennen, ob er in sein Buch schaute oder schlief. Es war die sechste Stunde.
    «Herr Tschichatschow, darf ich bitten?»
    «Was?» Tschicks Kopf hob sich langsam. Dieses ironische Siezen. Da ging schon mal das Warnlämpchen an.
    «Herr Tschichatschow, sind Sie da?»
    «Bei der Arbeit.»
    «Haben Sie die Hausaufgaben gemacht?»
    «Selbstverständlich.»
    «Hätten Sie die Güte, sie uns vorzulesen?»
    «Äh ja.» Tschick sah sich kurz auf seinem Tisch um, entdeckte dann seine Plastiktüte auf dem Boden, hievte sie hoch und suchte nach dem Heft. Wie immer hatte er nichts ausgepackt vor der Stunde. Er zog mehrere Hefte raus und schien Mühe zu haben, das richtige zu identifizieren.
    «Wenn du keine Hausaufgaben gemacht hast, sag’s.»
    «Ich hab Hausaufgaben – wo isses denn? Wo isses denn?» Er legte ein Heft auf den Tisch, steckte die anderen zurück und blätterte darin herum.
    «Da, da ist es. Soll ich vorlesen?»
    «Ich bitte darum.»
    «Gut, ich fang dann jetzt an. Die Hausaufgabe war die Geschichte vom Herrn K. Ich beginne. Interpretation der Geschichte von Herrn K. Die erste Frage, die man hat, wenn man Prechts Geschichte liest, ist logisch –»
    «Brecht», sagte Kaltwasser, «Bert Brecht.»
    «Ah.» Tschick fischte einen Kugelschreiber aus der Plastiktüte und kritzelte in seinem Heft. Er steckte den Kugelschreiber zurück in die Plastiktüte.
    «Interpretation der Geschichte von Herrn K. Die erste Frage, die man hat, wenn man Brechts Geschichte liest, ist logisch, wer sich hinter dem rätselhaften Buchstaben K. versteckt. Ohne viel Übertreibung kann man wohl sagen, dass es ein Mann ist, der das Licht der Öffentlichkeit scheut. Er versteckt sich hinter einem Buchstaben, und zwar dem Buchstaben K. Das ist der elfte Buchstabe vom Alphabet. Warum versteckt er sich? Tatsächlich ist Herr K. beruflich Waffenschieber. Mit anderen dunklen Gestalten zusammen (Herrn L. und Herrn F.) hat er eine Verbrecherorganisation gegründet, für die die Genfer Konvention nur einen traurigen Witz darstellt. Er hat Panzer und Flugzeuge verkauft und Milliarden gemacht und macht sich längst nicht mehr die Finger schmutzig. Lieber kreuzt er auf seiner Yacht im Mittelmeer, wo die CIA auf ihn kam. Daraufhin floh Herr K. nach Südamerika und ließ sein Gesicht bei dem berühmten Doktor M. chirurgisch verändern und ist nun verblüfft, dass ihn einer auf der Straße erkennt: Er erbleicht. Es versteht sich von selbst, dass der Mann, der ihn

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