Tschick (German Edition)
toll. Aber diese Zeichnungen waren nicht toll, die waren einfach nur endbescheuert, und dazwischen immer in Schönschrift Tierbeobachtungen und Wetterbeobachtungen. Am Ende hatte Paul Wildschweine und Luchse und Wölfe gesehen, Wölfe mit Fragezeichen, und ich hab gesagt: «Das ist hier der Stadtrand von Berlin – Luchse und Wölfe , bist du dir ganz sicher?» Und er hat mir das Buch aus der Hand gerissen und mich angeguckt, als ob ich der Bekloppte wäre. Und danach haben wir uns nicht mehr so oft gesehen. Drei Jahre ist das her. Das war einmal mein bester Freund.
Auf dem Gymnasium habe ich dann erst mal niemanden kennengelernt. Ich bin nicht wahnsinnig gut im Kennenlernen. Und das war auch nie das ganz große Problem für mich. Bis Tatjana Cosic kam. Oder bis ich sie bemerkte. Denn natürlich war Tatjana schon immer in meiner Klasse. Aber bemerkt hab ich sie erst in der Siebten. Warum, weiß ich nicht. Aber in der Siebten hatte ich sie auf einmal voll auf dem Schirm, da fing das ganze Elend an. Und ich sollte jetzt wahrscheinlich langsam mal anfangen, Tatjana zu beschreiben. Weil sonst alles, was danach kommt, unverständlich ist.
Tatjana heißt mit Vornamen Tatjana und mit Nachnamen Cosic. Sie ist vierzehn Jahre alt und 1,65 m groß, und ihre Eltern heißen mit Nachnamen ebenfalls Cosic. Wie sie mit Vornamen heißen, weiß ich nicht. Sie kommen aus Serbien oder Kroatien, jedenfalls kommt der Name daher, und sie wohnen in einem weißen Mietshaus mit vielen Fenstern – badabim, badabong. Schon klar: Ich kann hier noch lange rumschwafeln, aber das Erstaunliche ist, dass ich überhaupt nicht weiß, wovon ich rede. Ich kenne Tatjana nämlich überhaupt nicht. Ich weiß über sie, was jeder weiß, der mit ihr in eine Klasse geht. Ich weiß, wie sie aussieht, wie sie heißt und dass sie gut in Sport und Englisch ist. Und so weiter. Dass sie 1,65 groß ist, weiß ich vom Tag der Schuluntersuchung. Wo sie wohnt, weiß ich aus dem Telefonbuch, und mehr weiß ich praktisch nicht. Und ich könnte logisch noch ihr Aussehen ganz genau beschreiben und ihre Stimme und ihre Haare und alles. Aber ich glaube, das ist überflüssig. Weil, kann sich ja jeder vorstellen, wie sie aussieht: Sie sieht super aus. Ihre Stimme ist auch super. Sie ist einfach insgesamt super. So kann man sich das vorstellen.
6
Und jetzt hab ich immer noch nicht erklärt, warum sie mich Psycho genannt haben. Denn, wie gesagt, für kurze Zeit hieß ich auch Psycho. Keine Ahnung, was das sollte. Also schon klar: Das sollte bedeuten, dass ich sie nicht alle beisammenhab. Aber da hätten meiner Meinung nach ein paar andere viel eher so heißen können. Frank hätte so heißen können, oder Stöbcke mit seinem Feuerzeug, die sind auf jeden Fall gestörter als ich. Oder der Nazi. Aber der Nazi hieß schon Nazi, der brauchte keinen Namen mehr. Und natürlich hatte das auch einen speziellen Grund, warum ausgerechnet ich so hieß. Dieser Grund war ein Deutschaufsatz bei Schürmann, sechste Klasse. Thema Reizwortgeschichte. Falls jemand nicht weiß, was das ist, Reizwortgeschichte geht so: Man bekommt vier Wörter, zum Beispiel «Zoo», «Affe», «Wärter» und «Mütze», und dann muss man eine Geschichte schreiben, in der ein Zoo, ein Affe, ein Wärter und eine Mütze vorkommen. Wahnsinnig originell. Der reine Schwachsinn. Die Wörter, die Schürmann sich ausgedacht hatte, waren «Urlaub», «Wasser», «Rettung» und «Gott». Was schon mal deutlich schwieriger war als mit dem Zoo und dem Affen, und die Hauptschwierigkeit war natürlich Gott. Bei uns gab es nur Ethik, und in der Klasse waren sechzehn Atheisten inklusive mir, und auch die, die Protestanten waren, die haben nicht wirklich an Gott geglaubt. Glaube ich. Jedenfalls nicht so, wie Leute daran glauben, die wirklich an Gott glauben, die keiner Ameise was zuleide tun können oder sich riesig freuen, wenn einer stirbt, weil er dann in den Himmel kommt. Oder die mit einem Flugzeug ins World Trade Center krachen. Die glauben wirklich an Gott. Und deshalb war dieser Aufsatz ziemlich schwierig. Die meisten haben sich erst mal an dem Wort Urlaub festgehalten. Da rudert die Kleinfamilie an der Côte d’Azur rum, und dann geraten sie vollkommen überraschend in einen höllischen Sturm und rufen «o Gott» und werden gerettet und so. Und so was hätte ich natürlich auch schreiben können. Aber als ich über diesem Aufsatz saß, fiel mir als Erstes ein, dass wir die letzten drei Jahre schon nicht mehr in den
Weitere Kostenlose Bücher